Die Illusion der Unbesiegbarkeit. Paul Williams
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Doch so plausibel all diese Faktoren in der Rückschau wirken, so anspruchsvoll ist ihre Umsetzung im Unternehmensalltag. Wer vermag schon immer verlässlich zu sagen, ob man sich noch in der Phase gesunder Expansion befindet oder schon auf dem Weg zur Überhitzung? Oder ob die Unternehmenskultur noch ein akzeptables Maß an Wettbewerbsorientierung aufweist oder schon Söldnermentalität provoziert?
Hinzu kommt ein grundsätzliches Dilemma, auf das auch der Management-Vordenker Jim Collins in einem Aufsatz über den Absturz erfolgsverwöhnter Unternehmen hinweist (»How the Mighty Fall«10): Umsteuern muss ein Unternehmen (bzw. sein Management) schon, bevor die Missstände für alle offen zutage treten, also in einer Phase, in der scheinbar noch alles gut läuft. Dem steht aber die menschliche Psyche entgegen, wie Probst / Raisch einräumen, die sich schwer damit tut, eine Strategie »bereits zu einem Zeitpunkt [zu] ändern, zu dem diese (zumindest vordergründig) noch erfolgreich ist«.11 Von den Incas hätte dies beispielsweise erfordert, ihre rastlose Expansionsstrategie schon zu verlangsamen, bevor ihr Reich durch zunehmende Widerstände schwerer regierbar wurde. Oder von großen Versendern wie Quelle oder Neckermann, sich schon um das Online-Geschäft zu kümmern, als das Bestellen per Katalog ihnen noch satte Umsätze und Gewinne bescherte.
Collins’ Analyse der Faktoren, die mächtige Unternehmen zu Fall bringen, überschneidet sich übrigens stark mit der seiner Genfer Kollegen. Der US-Berater nennt auf der Basis der Auswertung von zusammen 6000 Jahren Unternehmensgeschichte die »Hybris« erfolgsverwöhnter Manager, die Gier nach mehr Macht, Umsatz und Größe und das Verleugnen von Risiken und Gefahren als Komponenten des Niedergangs. Lässt sich die Misere nicht mehr ausblenden, folgen hektische Rettungsversuche und schließlich Resignation. Doch auch Collins blickt aus sicherer Entfernung auf die Vergangenheit. Die eigentlich spannende Frage ist: Wie erkennen wir als Verantwortungsträger im Unternehmensalltag die ersten, noch schwachen Warnsignale? Wie steuern wir im Vorfeld der Logik des Niedergangs gegen? Wie schärfen wir unsere Sinne, wie blicken wir hinter die Kulissen des Tagesgeschäfts? Diesen (und weiteren) Fragen sind die folgenden Kapitel gewidmet. Die jeweils wichtigsten Erkenntnisse eines Kapitels bündeln wir am Ende zu einem »Inca-Impuls«. Fangen wir gleich damit an!
INCA-IMPULS
•Der Moment der größten Stärke und des größten Erfolgs ist zugleich der Moment der größten Verletzbarkeit.
•Analysieren Sie Ihre »offenen Flanken« – vor allem dann, wenn Sie sich unbesiegbar fühlen!
»Die Nummer Eins zu werden, muss ein erklärtes Ziel sein in allem, was du tust. Aber ›being number one‹ heißt nicht ›being the biggest‹.«
GERD STÜRZ, LIFE SCIENCES DACH-CHEF VON EY
1 Eine fesselnde Vision – oder organisierte Überforderung?
Kaum eine Imagebroschüre oder Unternehmenswebsite kommt ohne eine »Vision« aus, und wer Topmanagern schmeicheln will, bezeichnet sie als »visionär«. Doch sind Visionen tatsächlich immer nützliche Treiber des Geschehens? Bei den Incas war das einige Jahrzehnte lang der Fall – bis sich ihr Schicksal gerade durch das Diktat ihrer ambitionierten Ziele dramatisch wendete. Karten ihres Reiches beeindrucken noch heute. Sie zeichnen das Bild einer kontinuierlichen Expansion über rund 4500 Kilometer entlang der Westküste Südamerikas, und das in nur sechs Jahrzehnten. Am Ende umfasste das Inca-Imperium ein Gebiet, das sich über Teile des heutigen Ecuador und Peru, Bolivien, Chile und Argentinien erstreckte (siehe Abb. 2). Was steckt hinter dieser rastlosen, geradezu unersättlichen Eroberungspolitik? Die Inca-Herrscher sahen ihre Bestimmung darin, »Ordnung in die Welt zu bringen«. »Veränderer der Welt« oder »Retter der Erde« lautet übersetzt der Name, den sich der Inca Pachacútec gab. Unter seiner Führung begann 1438 die Ausdehnung des Reiches. Dabei konnte die »Welt AG« der Incas gar nicht groß genug sein, ganz wie bei den Global Playern des Silicon Valley heute. Am Ende war ihr Riesenreich nur noch mit Mühe regierbar, doch Rückzug war keine Option. Ähnlichkeiten mit Großkonzernen sind kaum zufällig … Von den Incas wurde jeder Feind eines unterworfenen Volkes als neuer eigener Feind betrachtet. Das forderte weitere Kriegszüge und befeuerte ihre Expansionspolitik stetig. Schließlich verwandelte sich die ehrgeizige Vision in eine Gefahr, die den Untergang des Reiches beschleunigte, weil unterworfene Völker nicht mehr rasch genug integriert werden konnten. Viele von ihnen schlossen sich bereitwillig den spanischen Konquistadoren an, die das Inca-Reich zu Fall brachten.1
Abb. 2: Ausdehnung des Inca-Reiches im 15. Jahrhundert
Die selbstbewusste Ur-Idee der Incas, die Welt zu ordnen, besaß offenbar eine erstaunliche Durchschlagskraft. Über Jahrzehnte bestimmte sie das Handeln der Elite, den Export von Anbaustrategien und Bewässerungstechniken, die Nutzung der Ressourcen und handwerklichen Fähigkeiten der »Eingegliederten« – immer mit dem Ziel, den eigenen Machtbereich konsequent auszudehnen und ein reibungslos funktionierendes Staatswesen zu schaffen. Hungern musste im Inca-Imperium niemand, Funde weisen keine Indizien für Mangelernährung auf. Das sah im Europa des 15. Jahrhunderts anders aus. Frei entscheiden konnte im Inca-Reich allerdings auch kaum jemand: Ganze Dörfer wurden umgesiedelt, Handwerker in die Zentren verfrachtet, Arbeitstribute eingefordert. Dass die Inca-Vision einer geordneten Welt dennoch über weite Strecken große Anziehungs- und Überzeugungskraft besaß, hängt auch damit zusammen, dass sie perfekt in die Zeit passte. Ab dem 11. Jahrhundert hatten klimatische Veränderungen mit Dürren im Landesinnern und verheerenden Niederschlägen an den Küsten zu Hungersnöten und dauerhaften kriegerischen Auseinandersetzungen geführt. Nach einer Periode des Chaos war die Vision einer geordneten Welt offenbar so attraktiv, dass manche indigenen Völker das Angebot einer »freundlichen Übernahme« ohne Gegenwehr akzeptierten.
Eine Vision, die in die Zeit passt und wie ein Leitstern strategische Entscheidungen und alltägliches Handeln bestimmt, steht am Anfang vieler großer Unternehmen. Eine solche Vision kann Menschen begeistern, sie zum Mittun anregen, motivieren. Bekannte Beispiele sind Bill Gates’ ehrgeiziges Ziel, »einen Computer auf jedem Schreibtisch, in jedem Haus« zu ermöglichen, oder der Anspruch von Google, »das Wissen der Welt« verfügbar zu machen. Beide Visionen markieren den Beginn einer neuen Ära, die Microsoft und Google entscheidend prägten und bis heute prägen. Auch Jeff Bezos’ Vision, mit Amazon »das kundenfreundlichste Unternehmen der Welt« zu schaffen, gehört in diese Kategorie. Steve Jobs definierte ebenso schlicht wie ambitioniert: »A vision is how you will make the world a better place«, und reklamierte für sich, eine Delle ins Universum zu