Der kleine Eheretter. Monika Röder

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Der kleine Eheretter - Monika Röder Carl-Auer Ratgeber

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zu einer Dissoziation. Im Betroffenen kann sich das so anfühlen, als sei er oder sie unter einer Glasglocke, bestimmte Körperteile gehörten nicht mehr dazu, oder es kommt zur Wahrnehmung eines Heraustretens aus dem Körper, um weniger Schmerz zu spüren und den Angriff besser aushalten zu können. Bei einem Streit interpretiert das Gegenüber den Shutdown aufgrund des unterbrochenen Kontakts oft als Blockade oder Ignoranz.

      Alle drei Modi können natürlich auch in Misch- bzw. abgeschwächten Formen auftreten. Es gibt zum Beispiel einen sehr sinnvollen Übergang zwischen sozialem Kontaktsystem und beginnender Aktivierung des sympathischen Nervensystems, also beginnendem Kampf- oder Fluchtmodus, um sich bei wichtigen Anliegen klar positionieren und durchsetzen zu können. Oder es gibt einen beginnenden Shutdown, in dem das System nicht ganz in Richtung Koma heruntergefahren ist, aber wirklicher sozialer Kontakt dennoch einfach nicht mehr möglich ist.

      AUS DEM WIRKLICHEN LEBEN: NOCH MAL FRANZ UND SABINE

      Wenn SABINE unter Stress steht, regt sie sich schneller über Dinge auf, die sie sonst viel entspannter tolerieren kann. An besagtem Abend, zu dem sie Freunde eingeladen haben, kommt sie schon gestresst von der Arbeit. Im Supermarkt gibt es weder den fest eingeplanten Eisbergsalat noch ihren Lieblingswein. Zu Hause angekommen stört es sie schon, dass FRANZ das Auto nicht in die Garage gefahren hat, sie sagt aber noch nichts.

      Franz ist zu Hause. Er hat sich für den Abend früher freigenommen, was ihm die missmutigen Blicke der Kollegen eingehandelt hat. Auch bei ihm sind also bereits Knöpfe gedrückt, die seine alte Wunde triggern, nicht genügend zu leisten und dadurch nicht mehr geliebt zu werden. Er ist mit Staubsaugen beschäftigt und begrüßt Sabine nur flüchtig quer durchs Wohnzimmer.

      Aufgrund der lieblosen Begrüßung steigt Sabines Spannung noch weiter an. Sie hat schon einen beginnenden »Tunnelblick« und kommt in dieser gestressten Verfassung auch nicht auf den Gedanken, selbst freundlich auf Franz zuzugehen und ihn liebevoll zu küssen. Stattdessen pfeffert sie in der Küche die Einkäufe auf den Tisch und lässt die Schranktüren zuknallen.

      Die Gefahrenscanner beider Partner haben längst die Anspannung beim anderen gelesen und innerlich den Sympathikus aktiviert. Bei Franz wie bei Sabine beschleunigt sich der Herzschlag, die Atmung wird schneller, und der erhöhte Muskeltonus macht die Bewegungen heftiger und ruppiger.

      Sabine spürt beim Blick auf die Uhr ein Gefühl der Überforderung, das sie zusätzlich unter Stress setzt. Überforderung ist für sie assoziiert mit der schwachen Mutter und daher ein Selbstbild, das sie auch bei sich selbst ablehnt. In ihr entsteht das Bedürfnis, beruhigt, getröstet und unterstützt zu werden. Aufgrund der Aktivierung des Sympathikus kann sie das aber nicht mehr in einem empathischen und wohlwollenden Tonfall äußern, sondern ruft stattdessen ins Wohnzimmer: »Hast du eigentlich gesehen, wie viel Uhr es ist? Und du bist noch am Saugen! Wie sollen wir das denn schaffen?«

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      Jetzt wird in Franz die alte Wunde getriggert: Wie ich es mache, ist es falsch. Es reicht nicht, was ich tue. Ich habe keine Chance, es recht zu machen. Er weiß aus Erfahrung: Es lohnt sich nicht, mit der aufgebrachten Sabine zu streiten, und er weiß auch, dass er jetzt nicht einfach verschwinden kann. Sein Nervensystem kippt in einen Shutdown. Die Atmung wird flacher, das Hirn ist wie leer. Er hört Sabine nicht mehr richtig, fühlt sich innerlich einsam und von der Welt abgeschnitten. Dennoch räumt er den Staubsauger weg, trottet pflichtbewusst in die Küche, stellt sich teilnahmslos an den Schrank und wartet auf weitere Anweisungen.

      Auch bei Sabine funktioniert die Neurozeption unterhalb der Bewusstseinsschwelle so schnell, dass eine logische Reflexion der Situation nicht möglich ist. Sie liest den abgeschalteten Ausdruck in seinem Gesicht und seiner Haltung, und auch bei ihr werden noch mehr alte wunde Knöpfe gedrückt: »Ich bin in Not und werde nicht gesehen. Ich werde wieder alleingelassen, meine Gefühle und Bedürfnisse haben keine Berechtigung.« Doch Sabines Nervensystem hat im Gegensatz zu Franz eine Präferenz für die Aktivierung des Kampfprogramms. Ihre verzweifelte Reaktion ist nicht resigniert, sondern wird immer konfrontativer, bissiger und verletzender. Ihre vorwurfsvollen Worte rauschen durch Franz’ Ohren hindurch. Der Kontakt ist verloren.

      Streit und die Eskalationsspirale

      Jetzt noch einmal zur Frage: Was ist Streit? Streit ist im neurobiologischen Sinne eine Dynamik, in der beide Partner getriggert sind – in der also bei beiden Nervensystemen der Defensivmodus aktiviert ist und sie in ein Kräftemessen einsteigen. Das autonome Nervensystem heißt so, weil es autonom und unabhängig von rationalen Erwägungen entweder in den Kampf-/Fluchtmodus oder in den Shutdown schaltet.

      Ist der Startknopf einmal gedrückt, beginnt eine innere Kettenreaktion und damit eine sich wechselseitig aufschaukelnde Dynamik: die Eskalationsspirale. Die ersten Anzeichen können so subtil und versteckt sein, dass ein fremder außenstehender Mensch sie nicht lesen könnte, aber die innere Eskalation beginnt: eine Augenbrauenbewegung, ein Augenverdrehen, ein leichtes Schnauben oder Seufzen, ein minimal veränderter Tonfall oder eine bestimmte Körperhaltung. Aber der Empfänger konstruiert daraus die Botschaft! Das heißt: Wer die Botschaft hört oder sieht, entscheidet über ihre Bedeutung. Gibt es beim Empfänger wie oben dargestellt einen wunden Punkt, eine Bedürftigkeit oder eine Verletzung, so kann das beim anderen ebenfalls noch unterhalb der Bewusstseinsschwelle eine Abwehrreaktion auslösen – auch dort beginnt eine innere Eskalation. Die wird ebenfalls vom Partner bzw. von der Partnerin gelesen, die wiederum darauf reagiert. Jetzt nimmt die Eskalationsspirale wie im Beispiel von Franz und Sabine Fahrt auf.

      Meist gibt es bereits ein umfangreiches gegenseitiges Triggergeschehen, bevor dem einen oder anderen Beteiligten bewusst wird, was hier läuft. Tritt der Angriff des anderen ins Bewusstsein, wird die Situation meist nicht besser: Jetzt wird erst recht noch mal was draufgepackt und zurückgeschossen. Die Eskalationsspirale wird größer und ist bei manchen Paaren geprägt von Verächtlichkeit, Beleidigungen oder auch Gewalt.

       Alles Wissenswerte in Kürze

      Unser Gehirn hat ein eingebautes System zur Gefahrenerkennung, das ständig die Umgebung nach potenziellen Bedrohungen abscannt. Dabei ist es übervorsichtig und meldet lieber falsch positiven Alarm, bevor es eine Gefahr übersieht. Wird etwas erkannt, das im Gedächtnis als schmerzvoll oder gefährlich abgespeichert ist, schaltet es blitzschnell auf ein Angriffsoder Verteidigungssystem um.

      Dabei können auch »kleine« Gefahren wie z. B. das genervte Verhalten eines Partners, das früher bei den Eltern oder in anderen belastenden Lebenssituationen als bedrohlich erlebt wurde, dazu führen, dass ein Kampf eingeleitet wird.

      Die ersten Anzeichen sind oft so subtil, dass der gefühlte Angriff und die eingeleitete Gegenwehr nicht bewusst werden, aber die innere Eskalation beginnt. Das Gegenüber jedoch nimmt es neurozeptiv wahr, fühlt sich wiederum angegriffen und reagiert mit einem Gegenangriff oder einer Blockade. So können scheinbar banale Situationen (wie der klassische Konflikt um die Zahnpastatube) eskalieren.

      Blick nach innen

       Übung: Selbstwahrnehmung im Konflikt

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      Sie haben in der vorigen Übung einige Ihrer persönlichen Triggersituationen identifiziert. Auch die nächste Übung zielt darauf ab, die Neurozeption und andere innere, autonome Prozesse bewusster werden zu lassen und noch früher zu erkennen, wann ein inneres Eskalationsgeschehen beginnt. Wir brauchen diese Selbstwahrnehmung, weil Signale,

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