Thriller Spannung ohne Ende! Zehn Krimis - 2000 Seiten. Alfred Bekker
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Thriller Spannung ohne Ende! Zehn Krimis - 2000 Seiten - Alfred Bekker страница 100
Lewohlt gähnte und rieb sich das schlecht rasierte Kinn. Gestern nacht hatte er zu lange gelesen; ausgehen konnte er nicht, weil er freiwillig die Bereitschaft übernommen hatte. Sechs seiner Leute, Familienväter mit schulpflichtigen Kindern, hatten Urlaub. Die Schule begann am Montag wieder, wenn es nicht gleich hitzefrei gab. Für die Rückkehrer hatten sich am Freitag drei andere in den Urlaub verabschiedet. Eigentlich waren nie alle Leute an Deck, aber mehr Planstellen wurden ihm nicht zugebilligt. Zwar jammerte er darüber wie alle Referatsleiter, aber so ganz ehrlich war er nicht dabei: Personalmangel war eine feine Ausrede dafür, dem Schreibtisch zu entfliehen und draußen zu recherchieren. Das gefiel ihm ohnehin besser, und für richtiger hielt er es auch. Manche Hauptkommissare leiteten ihre Referate nur noch vom Schreibtisch aus und hatten seit Monaten keinen Tatort mehr gesehen.
Nachdenklich schaute er sich um. Es mußte unbedingt bald regnen.
Über das Polizeipräsidium ärgerte sich Lewohlt jedesmal, wenn er in die Tiefgarage fuhr: ein moderner Hochbau, gerade sechs Jahre alt, viel Glas und noch mehr Beton, im Sommer heiß und im Winter kalt. An der Fassade bröckelte es bereits sichtbar. Aufgeteilt war dieses Prachtwerk, an dessen Entwurf kein Polizist mitgearbeitet haben konnte, in winzige Zimmerchen nach dem Fenster-Achsen-Prinzip. Eine Sekretärin hatte zum Beispiel Anspruch auf eine Achse, ein Sachbearbeiter (Gruppe IV, vorwiegend selbständig arbeitend) auf zwei, er als «Referatsleiter» auf vier. So oder so blieben es entsetzliche Schläuche mit grau gestrichenen Betonwänden (Bilder mußten geklebt werden), Einbauschränken mit scharfen Kanten neben den Türen und Neonleuchten. Natürlich gab es keine Verbindungstüren, nach dem Motto: Jeder für sich in seiner Klause, und der zu schmale Flur für uns alle. Der allgemeine Protest hatte wenigstens in diesem Punkt gefruchtet: Noch während des Baus begann der Umbau, wurden einige Verbindungstüren durchgestemmt. Nicht ändern ließ sich freilich der Geburtsfehler dieses Bastards, die vielen Innenräume ohne Tageslicht, in denen die Klimaanlage pausenlos rauschte. In einem ebenso hartnäckigen wie beschimpfungsreichen Streit mit der Belegabteilung hatte Lewohlt durchgesetzt, daß seine Mitarbeiter alle Zimmer mit Fenstern bekamen und daß sich diese Fenster tatsächlich auch öffnen ließen. Dafür wurden die Vernehmungszimmer nach innen verlegt, und das Gefühl des Eingeschlossenseins hatte manchen hartnäckigen Kunden zermürbt. Die mit mattweißen Blechen verkleideten Innenwände züchteten Klaustrophobien. Optimal untergebracht waren von Anfang an nur die Computer und Terminals; das ganze Haus steckte voller Elektronik, und nach deren Bedürfnissen hatten sich alle zu richten.
Einige wenige - unter ihnen Lewohlt - taten es nicht.
Im Präsidium hielt sich hartnäckig das Gerücht, eine Schweizer Firma, spezialisiert auf Management-Consulting, habe nicht nur den Bau entworfen, sondern auch das Organisationsschema der Polizei. Daran glaubte Lewohlt nicht: Die Organisation mußte von der Firma stammen, die den gesamten elektronischen Schmutz geliefert hatte. Ihre Monteure waren mittlerweile ein fester Bestandteil des Hauses geworden. Die Systeme stürzten immer noch ab oder produzierten Blödsinn, was auch daran liegen mochte, daß ständig Neues eingebaut und erprobt wurde.
Vom zehnten Stock aus hatte man einen ungestörten Blick auf die ganze Innenstadt, über deren Dächern nun schon seit Wochen die Hitze flimmerte. Wenn er nichts zu tun hatte, stand er oft am Fenster und träumte vor sich hin; das lebhafte Gewimmel war dann weit weg, das ununterbrochene Rauschen des Verkehrs sank herab, bis er es nicht mehr vernahm, und in diesen Minuten gehörte er nicht mehr dazu.
Ein Kaffee wäre gut. Er brauchte jetzt unbedingt einen Kaffee!
Jürgen Fischer kam eine halbe Stunde später in das Zimmer gehinkt. Er sah älter aus als fünfundvierzig. Vor sieben Jahren war er bei einer irrsinnigen Verfolgungsfahrt schwer verunglückt; die Ärzte amputierten ihm das linke Bein unterhalb des Knies und die linke Hand. Sein immer noch volles Haar war restlos ergraut, sein Gesicht zerfurcht. Personalabteilung, Vertrauensärztlicher Dienst und die allmächtige PK, die sich überall einmischende Personalkommission, wollten ihn vorzeitig pensionieren. Mehrere Wochen mußte Lewohlt kämpfen, um ihn zu seinem Stellvertreter zu machen. Sie verstanden sich seitdem ohne viele Worte. Fischers einzige Tochter war wenige Monate nach seinem Unfall tot in einer Bahnhofstoilette aufgefunden worden, neben ihr das zerbrochene Spritzbesteck, mit dem sie sich den goldenen Schuß verpaßt hatte. Der schweigsame Fischer wurde wortkarg. Er war ein gläubiger Katholik, der sich in seiner knappen Freitzeit um straffällige Jugendliche kümmerte. Seine Frau mochte Lewohlt nicht leiden und haßte die ganze Polizei.
«Was ist los, Richard?»
Er berichtete kurz, und Fischer stellte keine Fragen.
«Wer kommt noch?»
«Pedder und Heppel.»
«Gut, dann koche ich mal Kaffee.» Fischer lächelte nur kurz. Überall wurde Personal eingespart, die Kaffee-Küche blieb über das Wochenende geschlossen, und eine Sekretärin für den Sonntagsdienst stand jenseits aller Möglichkeiten.
Jens Peter Peddersen war eine Marke für sich. Bis heute blieb es Lewohlt ein Rätsel, wie Pedder die diversen Prüfungen geschafft hatte, wie er überhaupt zum Polizeidienst angenommen worden war. Die Natur hatte ihn mit 1,95 Meter Körperlänge und jackensprengenden Schultern gesegnet, außerdem mit einer weizenblonden Lockentolle, vor der jeder Friseur kapitulierte, dunkelblauen Augen und einem länglichen, kräftigen Gesicht. Wenn man ihn ansprach, zwinkerte er überrascht, weil man ihn aus anderen Sphären auf die Erde zurückholte. Zehn Sekunden schien er richtig zuzuhören, dann begann er wieder zu träumen. Noch nie hatte es ein Vorgesetzter fertiggebracht, Pedder zur Eile anzutreiben. Auf der Straße war er so unauffällig wie eine Giraffe mit zwei Köpfen, und wenn er dann seine langen Beine vorsichtig, wie auf einem schwankenden Boot, bewegte, drehten sich die Passanten nach ihm um. Nur seine friedlich-verträumte Miene hinderten die Leute daran, ihn nach dem ersten Blick für dumm zu halten, obwohl Pedder alles tat, diesen Eindruck hervorzurufen.
Andy hatte das lange Ende angestaunt: «Mein Gott, ein echter Ostfriese!» worauf Pedder verträumt lächelte. «Willst du etwa bei uns arbeiten?»
«Ich weiß nicht...»
«So, du weißt nicht.» Andy stemmte die Fäuste in die Seite und mußte den Kopf in den Nacken legen. «Du weißt nicht. Is ja prächtig! Wir werden wunderbar Zusammenarbeiten.»
«Meinst du?» Pedder sprach bedächtig und laut, als reiße ihm der Wind die Silben von den Lippen.
«Das meine ich! Weißt du, früher hatte ein ordentlicher Mann seinen Sklaven. Dann seinen Neger. Heute seinen Türken. Ich werde der erste sein, der seinen Ostfriesen hat.»
«Ja?» Pedder war im Ruhrgebiet geboren und aufgewachsen, hatte die See im Alter von achtzehn Jahren zum erstenmal gesehen und wußte nicht einmal genau, wie Lewohlt später herausfand, wo Ostfriesland liegt. Aber er schmunzelte breit und musterte von oben herunter den vorlauten Andy mit sichtlichem Wohlwollen. Und die beiden verstanden sich. Wann immer sie vor Zeugen zusammentrafen, hackte Andy auf ihm herum, kommandierte, schimpfte oder klagte lautstark über die Langsamkeit seines Kollegen. Pedder zwinkerte fröhlich und hob manchmal ehrlich erstaunt die Augenbrauen, wenn sich Andy eine neue Beschimpfung ausgedacht hatte. Er redete nicht gerne und selten in vollständigen Sätzen. Alles in allem schien er das Musterbeispiel dafür abzugeben, wie ein Kriminalbeamter nicht beschaffen