Still ruht der See. Gisela Witte

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Still ruht der See - Gisela Witte

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auf. Der Kiesweg lässt sich unter den Gräsern nur noch erahnen. Ein verwilderter Garten umwuchert das Haus.

      »Ach, du meine Güte. Hoffentlich sieht es drinnen nicht genauso aus!«, ruft Tina aus und dreht sich zu den Frauen um. Als sie die schwere Eichentür aufschließt, bestätigen sich ihre Befürchtungen. Offensichtlich ist das Haus schon seit langer Zeit nicht mehr bewohnt worden. Tina inspiziert sämtliche Räume. Die einzigen vorhandenen Möbelstücke findet sie in der Küche vor, einen großen Holztisch mit vier Stühlen. Im Wohnzimmer hängt ein großformatiges Gemälde, auf dem Früchte abgebildet sind. Aus einer mit pausbackigen Engeln bemalten Keramikschale quellen Weintrauben, Feigen, Pfirsiche. Sie scheinen aus dem geschmacklosen Gefäß fliehen zu wollen. So ein Bild hätte sie auch im Haus zurückgelassen.

      Die Fußböden sind mit einer Schmutzschicht bedeckt, die Fenster, mit Efeu zugewachsen, lassen nur wenig Licht herein. »Das schaffen wir nie an einem Tag« sagt Tina. Die Frauen nicken zustimmend.

      »Zumutung«, zischt Aneta empört. Tina macht mit ihrem Handy einige Fotos von den Räumen, um den Zustand des Hauses zu dokumentieren. Das hat sich schon häufig als nützlich erwiesen, wenn Kunden im Nachhinein den Preis drücken wollten.

      Sie ruft den neuen Besitzer an und teilt ihm mit, dass das Haus nicht an einem Tag zu reinigen sei. Dieser reagiert nicht sonderlich erstaunt und schickt ihr per SMS umgehend eine Bestätigung, dass er mit den höheren Reinigungskosten einverstanden ist.

      »Warum nicht erst renovieren und dann saubermachen«, sagt Aneta und schüttelt verständnislos den Kopf.

      »Ja, das frage ich mich auch. Aber das ist nicht unser Problem. Als Erstes entfernt ihr in allen Zimmern den Staub und putzt bitte zu zweit die Fenster im ganzen Haus.«

      Die Küche ist bereits gereinigt, als Tina Mineralwasser, Gläser, eine Thermoskanne mit Kaffee, einen Apfelkuchen und Tassen aus einem der mitgebrachten Körbe auf den Tisch stellt.

      Tina tritt aus der Veranda in den Garten. In den alten

      Apfelbäumen zwitschern Vögel, der Duft von Heckenrosen weht herüber. Es herrscht ein lebendiges Insektenleben, ein Summen und Brummen in den Gräsern, die ihr bis zum Knie reichen. So eine Wiese hatte sie sich für ihren Garten gewünscht, aber Jörg konnte sich mit seiner Vorstellung, wie ein Rasen auszusehen hat, durchsetzen: kurz und penibel gepflegt. Gegen Mittag wird der Gärtner kommen und nach Jörgs Anweisung dem Wildwuchs ein Ende setzen. Er wird all die Gräser und Blumen zerstören, die vielen Insekten ein Zuhause geben.

      Nach der Arbeit, am frühen Nachmittag, fährt Tina die Frauen zu ihrer Unterkunft.

      »Hat Jelena einen Freund?«, fragt sie unvermittelt, als sie das Haus betreten.

      „Ich glauben«, meint Aneta. »Manchmal sein viel Krach mit Mann in Zimmer.« Die Anderen zucken die Achseln.

      Erneut eilt Tina in den ersten Stock. Sie klopft an die Tür und ruft laut, aber es rührt sich nichts. Auch ist die Tür verschlossen. Sie stellt fest, dass die anderen fünf polnischen Frauen, die im gleichen Stockwerk wohnen, noch unter Aufsicht ihrer Schwägerin im Einsatz sind.

      Aneta wartet an der Haustür auf sie und sieht ihr erwartungsvoll entgegen.

      »Nichts«, sagt Tina und hebt ratlos die Schultern. Die anderen Frauen kommen dazu und tuscheln miteinander. »Bitte ruft mich an, wenn Jelena kommt.«

      Tina kann ihre Unruhe nicht mehr unterdrücken. Ob Jelena krank ist? Soll sie sich Gewissheit verschaffen und den Zweitschlüssel von zu Hause holen, um in Jelenas Zimmer zu gelangen?

      Jörg sitzt vor dem Fernseher, sieht eine Sportsendung und blickt auf, als sie das Wohnzimmer betritt.

      »Wie steht’s mit Abendbrot«, fragt er.

      »Super«, erwidert sie. »Sag Bescheid, wenn es fertig ist.«

      Er runzelt die Stirne und schüttelt missbilligend den Kopf.

      »Stell dir vor«, ruft sie aus. »Jelena ist nicht zur Arbeit erschienen. Hat sich auch nicht gemeldet, als ich an ihre Tür geklopft habe. Naja, sie ist nicht immer zuverlässig gewesen. Vielleicht übernachtet sie bei einem Freund. Aber morgen müsste ich sie als vermisst melden.«

      Für einen kurzen Moment starrt er sie mit offenem Mund an. »Bestimmt ist sie bei einem Kerl. Mit der Polizei würde ich noch warten«, antwortet er und springt auf. Er wendet den Blick ab, als er sagt: »Muss noch was erledigen.«

      Dann hastet er aus dem Raum. Im Flur hört sie ihn aufgeregt telefonieren. Die Gartentür wird zugeschlagen, der Motor von Jörgs Volvo heult auf. Was ist mit ihm los? Warum hat er es plötzlich so eilig?

      Sie hat ein ungutes Gefühl. Sie entschließt sich, später zum Haus fahren und nachzusehen, ob Jelena gekommen ist. Vielleicht findet sie Hinweise in deren Zimmer, wo sie sich aufhält.

      Es ist heiß, sie fühlt sich verschwitzt und hat das Bedürfnis nach einer kurzen Dusche. Mit Genuss lässt sie das kalte Wasser über ihren Körper fließen. Wenige Minuten später frottiert sie sich ab und zieht sich an. Noch mit feuchtem Haar nimmt sie den Zweitschlüssel vom Bord und steckt ihn in die Handtasche. Sie läuft auf die Straße zu ihrem Auto und fährt los.

      Als sie ankommt, sieht sie direkt vor dem Haus der Reinigungskräfte einen Volvo parken. Zwei Männer verlassen gerade das Grundstück durch die Gartenpforte. Beim Näherkommen erkennt sie Jörg und Sven. Was wollen die beiden hier? Tina parkt ein und im gleichen Moment fahren Jörg und Sven mit dem Volvo los. Sie betritt das Haus und stellt fest, dass die Kellertür neben der Küche offensteht.

      Es rührt sich nichts, als sie an Jelenas Tür klopft. Sie schließt auf. Jedes Mal ist sie beschämt, wenn sie ein Zimmer der Reinigungskräfte betritt und ihr bewusst wird, wie schäbig die Räumlichkeiten ausgestattet sind. Darüber können auch die Bemühungen der Frauen nicht hinwegtäuschen, ihre Umgebung mittels Sofakissen und Wandschmuck zu verschönern. Wenn es um den Kauf neuer Möbel ging, blieben Jörg und Manuela hart. Schließlich sei es schon der reine Luxus, dass jede Reinigungskraft ein eigenes Zimmer bewohne, argumentierten sie.

      Jelenas Raum enthält einen schiefen Schrank, einen Tisch mit zerkratzter Platte, zwei Stühle und ein schmales Bett, das unberührt ist. Sie scheint woanders übernachtet zu haben. Es ist schon vorgekommen, dass eine der Frauen, ohne zu kündigen, bei einem anderen Arbeitgeber eine neue Arbeit begonnen hat oder in ihr Heimatland zurückgefahren ist. Aber das trifft hier offensichtlich nicht zu. Gerahmte Fotos von Freunden oder Verwandten stehen auf dem Bord und der Schrank enthält Kleidung und ordentlich gestapelte Unterwäsche. Unter den Dessous findet sie eine Brieftasche mit Jelenas Pass. Sie fotografiert die erste Seite mit ihrem Handy. Dann nimmt sie ein Kleid vom Bügel. Versace. Auch die anderen Kleider stammen aus namenhaften Modehäusern. Sie fährt mit dem Finger über den obersten Pullover im Regal. Eindeutig Kaschmir, teures Kaschmir. Nicht die zweitklassige Sorte, die sie trägt und die regelmäßig rasiert werden muss, weil sich Knoten bilden. Woher hat Jelena das Geld, sich so hochwertige Kleidung zu kaufen? Hat sie einen reichen Freund, bei dem sie sich gerade aufhält? Nur in einem Fach findet sie Arbeitskleidung.

      Auf dem Tisch liegt ein aufgeschlagener Terminkalender.

      »21: 00 Blue Hour Bar« ist unter dem gestrigen Datum eingetragen. Tina macht mit ihrem Handy ein Foto von der Eintragung. Sie schaut sich im Raum um. Lag auf dem Boden, wie auch in allen anderen Zimmern, nicht ein Flickenteppich? Er ist verschwunden, die Holzdielen sehen frisch gereinigt aus. Ihr Blick fällt auf das Foto auf dem Bord. Ein herzförmiges Gesicht mit großen, dunklen Augen, Jelena lacht glücklich.

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