Still ruht der See. Gisela Witte

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Still ruht der See - Gisela Witte

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dem Haus vor?«, mischt sich Chantal mit vollem Mund ein. »Wollen Sie es verkaufen?«

      »Ehrlich gesagt weiß ich es noch nicht.«

      »Bedenken Sie, dass Sie Ihre Wurzeln hier haben«, sagt Chantal.

      Das hat sie garantiert in der Schule gehört, dieser Satz passt nicht zum üblichen Sprachschatz eines Teenagers, denkt Kathrin.

      »Da ist was dran«, wirft Tina ein, »Dieses Haus ist nicht irgendein Haus. Die Familie Weingartner hat hier schon seit Generationen gelebt. Zu DDR-Zeiten sind sie ausquartiert worden und das Haus wurde als Ferienheim genutzt. Aber trotzdem sind sie im Ort geblieben. Ihren Vater habe ich nicht gekannt, aber Ihr Onkel war ein feiner Mensch, das hat meine Mutter immer gesagt. Die Familie soll sogar im Krieg Juden versteckt haben.«

      Einen Moment lang hängen alle ihren Gedanken nach.

      »Nicht, dass am Ende noch so ein geldgieriger Wessi auf die Idee kommt, das Ganze zu einem Luxushotel mit Seeblick umzubauen und dazu noch das eigene Personal mitbringt. Davon hätten die Leute hier überhaupt nichts!« ruft Tina plötzlich empört aus.

      »Sie könnten das Haus aber auch an einen Einheimischen verkaufen«, murmelt Manuela. Alle schauen sie erstaunt an. Manuela wirft hastig einen Blick auf die Armbanduhr und sagt: »Jetzt sollten wir aber los, ihr Schnapsdrosseln. Der nächste Kunde wartet.«

      »In Ordnung«, antwortet Tina. »Ich fahre mit Chantal in meinem Auto nach Potsdam. Wir wollen noch in eine Buchhandlung.«

      »Eine Buchhandlung. Was für eine Streberin.« Manuela schüttelt verständnislos den Kopf.

      Die Frauen stehen auf und geben Kathrin die Hand.

      »Hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen«, meint Tina.

      »Ganz meinerseits.« Kathrin lächelt und begleitet die Frauen bis vor die Tür.

      »Wenn Sie uns brauchen, rufen Sie einfach an, das ist meine Nummer.« Tina überreicht ihr eine Visitenkarte.

      »Vielen Dank«, ruft Kathrin ihnen hinterher.

      Bevor Manuela mit den polnischen Frauen in einem Kleinbus davonfährt, raucht sie noch hastig eine Zigarette im Hof und tritt dann die Kippe aus. Tina und Chantal besteigen einen alten Fiat, der kurze Zeit später zum Tor hinaus röhrt.

      Erstaunlich, wie ein nostalgischer Kuchen und eine Flasche Korn die Stimmung heben können, denkt Kathrin. Es hat gutgetan, Leute im Haus zu haben. In dieses große Haus gehören Menschen. Jetzt herrscht wieder Stille, eine beklemmende Stille.

      Ihr fällt ein, dass sie sich schon gestern vorgenommen hat, den Briefkasten zu leeren. Wahrscheinlich ist er vollgestopft mit Werbeflyern und Katalogen. Sie sieht in den Himmel, der sich zugezogen hat. Feiner Regen setzt ein, der sich auf dem Weg zum Briefkasten verstärkt. Sie klemmt schnell die Post unter ihre Jacke und läuft ins Haus. In der Küche legt sie alles auf den Tisch. Die Werbung sortiert sie sofort aus und wirft sie in den Papierkorb. Übrig bleiben Briefe von Immobilienmaklern die sich für das Haus interessieren. Da entdeckt sie zwischen den Kuverts ein gefaltetes Blatt. Als sie den Text liest, lässt sie es fast vor Schreck fallen.

      „Keiner braucht dich hier! Hau ab, du Schlampe sonst wird es dir leidtun“, leuchtet ihr in roten Druckbuchstaben entgegen. Hinter dem letzten Buchstaben ist dilettantisch ein roter Fleck gemalt, der wohl eine Blutlache darstellen soll. Lächerlicher geht es nicht mehr. Die Nachricht erinnert sie an Detektivromane, die sie als Jugendliche gelesen hat. Ärgerlich zerreißt sie das Blatt und wirft es zu den Kaufangeboten von Maklern in den Papierkorb. Aber wer könnte dahinterstecken? Sie weiß keine Antwort.

      Dämmerung setzt ein. Der Regen prasselt gegen die Fensterscheiben. Wenigstens muss sie heute nicht den Garten gießen.

      Sie will sich nicht eingestehen, dass der Drohbrief sie doch in Unruhe versetzt hat. Sie läuft hinaus und schließt das schmiedeeiserne Portal zur Straße ab, danach die Haustür und die Tür zum Garten. Auch die Fensterläden verschließt sie sorgfältig. Jetzt fühlt sie sich sicherer.

      Dann macht sie es sich in der Küche gemütlich. Sie zündet eine Kerze an, kocht einen Tee und blättert in einer Zeitschrift.

      Sie blickt auf, als die Standuhr in der Halle zehnmal schlägt. Wo bleibt Frank? Ob er heute Abend zurückkommt? Auf ihrem Handy sind keine Nachrichten eingegangen und auf seinem meldet sich nur die Mailbox. Aber weshalb sollte sie beunruhigt sein?, redet sie sich ein. Vergeblich versucht sie, sich auf den Inhalt der Zeitschriften zu konzentrieren. Ihre Gedanken kreisen um Frank. Ob er wieder eine Affäre hat und warum lässt sie ihm alles durchgehen? So wie das Techtelmechtel mit der Barfrau im letzten Jahr. In ihrem Job verhält sie sich völlig anders. Da setzt sie konsequent Grenzen und zeigt sich selbstbewusst und durchsetzungsfähig.

      Mit gespitzten Ohren lauscht sie auf die Geräusche von draußen und ein hässlicher Gedanke schleicht sich ein. Ein Vorgefühl, wie einsam es sein könnte, wenn sie hier ohne Frank leben würde.

      Das Telefon klingelt und sie schrickt zusammen. Sie starrt das schwarze, altmodische Telefon mit Wählscheibe an. Das wird Frank sein. Sie ist froh, dass er sich meldet und sie mit ihm reden kann. Kathrin nimmt den Hörer ab und sagt ihren Vornamen. Am anderen Ende atmet jemand, dann herrscht Stille.

      »Wer ist da?«, ruft sie ärgerlich. Keine Antwort. Es rauscht und knistert in der Leitung. Dann folgt nur noch ein hämisches Lachen. Wütend knallt sie den Hörer auf.

      Kapitel 6

      Die ganze Zeit hat Tina über Jelenas plötzliches Verschwinden nachgedacht. Sie will Jörgs Meinung dazu hören. Aber als sie am Spätnachmittag nachhause kommt, trifft sie ihn nicht an. Auch in seinem Zimmer hält er sich nicht auf. Seit gestern Nachmittag hat sie ihn nicht mehr gesehen. Er muss erst spät in der Nacht heimgekommen sein.

      Ihr fällt die Eintragung in Jelenas Notizbuch ein. „Blue Hour Bar“. Sie recherchiert im Internet. Im Zentrum Potsdams findet sie eine Bar mit diesem Namen, geöffnet ab einundzwanzig Uhr.

      Die Hausarbeit erledigt sie mechanisch, während der Wunsch die Bar aufzusuchen, immer dringlicher wird. Sie saugt das Wohnzimmer, räumt in der Küche das Geschirr in die Spülmaschine, wischt die Flächen. Die Wäsche muss noch erledigt werden. In der Kammer stopft sie die schmutzige Wäsche in die Maschine, stutzt einen Moment. Weshalb sind die Jeans von Jörg so mit Erde verkrustet? Wahrscheinlich ist ein Gärtner ausgefallen, für den er einspringen musste.

      Nachdem alles erledigt ist, schaut sie auf ihre Armbanduhr. Zwanzig Uhr fünfzehn. Jörg ist immer noch nicht da und auch auf seinem Handy ist er nicht zu erreichen.

      Spontan entscheidet sie sich nach Potsdam zu fahren.

      Sie zieht sich weiße Jeans an und eine schwarze Seidenbluse. Im Bad schminkt sie sich die Lippen, trägt grauen Lidschatten auf, tuscht sich die Wimpern und bürstet sich die Haare.

      Es ist fast einundzwanzig Uhr, als sie losfährt. Kurz bevor sie in die B2 einbiegt, fährt ein dunkler Volvo an ihr vorbei und sie erkennt Jörg. Das versetzt ihr einen Stich. Offensichtlich hat er sie nicht bemerkt, sonst hätte er angehalten. Wenn sie heimkommt, wird er sie misstrauisch fragen, wo sie war. So wie in letzter Zeit ständig, wenn er sie zuhause nicht angetroffen hat.

      Bald passiert sie die Lange Brücke, die zur Innenstadt von Potsdam führt. Das Navi leitet sie in die Charlottenstraße und verkündet: »In hundert Metern haben Sie ihr Ziel erreicht«. Tina findet erstaunlich schnell einen Parkplatz.

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