Tod unterm Nierentisch. Alida Leimbach
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Tod unterm Nierentisch - Alida Leimbach страница 9
Albert Drescher ließ den Deckel seiner bunten Zigarrenkiste aufschnappen. »Schauen Sie sich ruhig um, Herr Conradi, hier kann man es weit bringen, wenn man fleißig, diszipliniert und ehrgeizig ist.«
Johann Conradi atmete tief durch und betrachtete seine Hände auf der Stuhllehne. Am Morgen, nach dem Aufstehen, hatte er endlich, nach langem Zögern, seinen Ehering abgenommen. Wo er gesessen hatte, war nun ein heller Abdruck zu sehen.
Seit einem Monat war er zurück in Osnabrück. Von Anfang an hatte es Spannungen zwischen ihm und Drescher gegeben. Vielleicht war es tatsächlich besser, er beendete die Probezeit von sich aus und ging woandershin. Die Polizeiarbeit war überall gleich, und Osnabrück erkannte er sowieso kaum wieder. Die Silhouette der Stadt hatte sich völlig verändert. Überall Ruinen und Schuttberge, wo mal prächtige Villen und Geschäftshäuser gestanden hatten. Dafür gab es jetzt einstöckige Behelfsbauten, schnell gebaut und zweckdienlich. Am Nikolaiort und im Schlossgarten waren Siedlungen mit Nissenhütten aus Wellblech entstanden. Viele Familien und Flüchtlinge lebten dort, die ihr Zuhause verloren hatten. Besonders der Neumarkt war nicht wiederzuerkennen. Die Plätze waren durch die Bombardierung so verändert, dass sie nicht mehr zu Osnabrück passten und sich auch in einer anderen Stadt hätten befinden können.
Aus dem Nichts entstanden in den Randbezirken Neubaugebiete mit grauen gesichtslosen Mehrfamilienhäusern, Doppel- und Reihenhäusern. Sie waren praktisch gebaut und zweifellos modern, aber längst nicht so schön wie die Gebäude, die er aus seiner Kindheit und Jugend kannte. Alles war anders. Selbst die Menschen waren ihm fremd geworden. Osnabrück war nicht länger seine Stadt, war keine Heimat mehr. Sogar das Heimweh, das ihn in den Jahren der Kriegsgefangenschaft geplagt hatte und auch noch danach, war auf einmal nicht mehr wahr. Es musste ein Irrtum gewesen sein oder ein Traum. Johann Conradi fragte sich, wonach er sich verzehrt hatte. Die Menschen, die er geliebt hatte, waren tot. Das, was jetzt war, hätte er sich niemals ersehnt. Danach konnte man kein Heimweh haben.
»Sie sind zur Probe eingestellt worden und von meinem Wohlwollen abhängig. Ob Sie bleiben dürfen, entscheide ich, vergessen Sie das nicht!« Albert Drescher nahm eine Zigarre aus der Kiste, schnitt die Spitze ab und zündete sie an, ohne Conradi eine anzubieten. »Menschenskinder, Conradi, was soll ich nur von Ihnen halten. Es fällt mir schwer, meine Enttäuschung zu verbergen. Was habe ich mich auf Sie gefreut! Ein erstklassiger Polizist seien Sie, wurde mir gesagt, jung, sportlich, ambitioniert.« Er rauchte manieriert mit gespreizten Fingern und blies eine Wolke gen Zimmerdecke. Seine großen leicht abstehenden Ohren wackelten dabei. Conradi fand, dass er Ähnlichkeit mit einer Spitzmaus hatte. Dazu passten auch sein schmaler Kopf, die leicht hervorstehenden Augen hinter den dicken Brillengläsern und die fusseligen Haare.
»Gewissenhaft, rechtstreu, fleißig, einer der Besten, die die Polizei zu bieten hätte«, fuhr der Chef mit verkniffenem Mund fort und stieß ein heiseres Lachen aus.
Das Büro lag bereits im blauen Dunst. Conradi mochte den Geruch nur, wenn er selbst rauchte.
»Jaja, und dann diese Enttäuschung. Himmel, hätte ich auch nur geahnt, wen sie mir da schicken, hätte ich gewiss eine andere Entscheidung getroffen.«
Conradi fühlte sich, als hätte ihm jemand einen Schlag in die Magengrube verpasst. »Es tut mir leid, dass Sie so unzufrieden mit mir sind«, sagte er geistesabwesend. Er wollte nichts mehr hören. Nur noch eine Dreiviertelstunde bis zum Spiel Deutschland gegen die Türkei. Er wollte, dass dieses unangenehme Gespräch endlich ein Ende fand, er wollte nichts als nach Hause.
Dass er Geburtstag hatte, schien niemanden zu interessieren. 47 war er geworden. Zwei Drittel seines Lebens waren vorbei. Sein Vater hatte einmal gesagt, die Jahre um die 50 seien die schönsten in seinem Leben gewesen. Ein gutes Alter, wie ein gereifter Wein. Die Jugend, mit all ihren Unsicherheiten und Unwägbarkeiten, war vorbei und die Beschwerden des Alters lagen noch in weiter Ferne. Im Alter von 52 Jahren hatte er sich noch einmal verliebt und Sophie geheiratet. Sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr gemeinsames Lebensende im Januar 1944, als eine britische Fünfzentnerbombe ihr Haus getroffen hatte. Sie hatten keinen Luftschutzkeller aufgesucht, weil Sophie ihren kleinen Terrier nicht im Stich lassen wollte, den sie nicht mitnehmen durfte. Johann Conradi hatte von ihrem Tod erst Jahre später erfahren.
»Kann ich jetzt gehen?« Conradi veränderte seine Sitzhaltung. Vielleicht half das.
»Warten Sie, nicht so eilig. Also gut, eine Chance gebe ich Ihnen noch. Eigentlich sollte das Starnke machen. Ein Schmugglerring in einem Kraftfahrzeugbetrieb. Lesen Sie sich heute noch ein. Da wird hochwertiges Material außer Landes gebracht, vormontierte Armaturenbretter, Schrauben, Türmodule. Die Ware geht nach Holland. Der Betrieb hat Anzeige erstattet. Dann zeigen Sie mal, was Sie draufhaben.«
»Jetzt sofort?«
Drescher klappte die Akte zu. »Ich habe gleich noch einen Termin«, stellte er klar und machte eine Wischbewegung mit seiner Zigarre.
Als der Marienkäfer um die Schreibtischlampe herumkrabbelte, entdeckte Drescher ihn. Schon hielt er seine Hand über ihn, um ihn zu erschlagen.
Aber Conradi war schneller. »Verzeihung«, rief er, »lassen Sie mich das bitte machen.«
Perplex starrte Drescher ihn an. Conradi nahm eine Karteikarte aus einem Holzgestell und schob sie vorsichtig unter das Tierchen. Damit trug er es zum Fenster. Den Hebel nach links, dann gab es da noch diesen Haken an der Seite und … Mit einem Quietschen ließ der Rahmen sich schließlich öffnen. Conradi streckte den Arm ins Freie. Zufrieden sah er zu, wie das Insekt seine Flügel ausbreitete und davonflog. »Gute Reise, Kleiner«, murmelte Conradi.
Beim Schließen des Fensters merkte er, dass es aus den Angeln geraten war. Mit etwas zu viel Kraft wollte er es zurück in die Verankerung drücken. Dabei löste sich die Scheibe und zersplitterte krachend auf dem Fußboden. Fassungslos starrte Conradi auf die zahllosen Scherben. Dass er sich am Unterarm verletzt hatte, merkte er erst, als er das Blut sah. Zum Glück hatte er ein sauberes Stofftaschentuch dabei und drückte es dagegen. Langsam drehte er sich um und sah Drescher den Kopf schütteln.
»Ein Depp sind Sie, Conradi, ein Depp!«
*
Als Conradi zu seinem Schreibtisch zurückkehrte, lief das Radio. Fritz Starnke pfiff leise mit. Der Schlager handelte von einer Orangenverkäuferin aus Italien, von Sonne, Wärme und Liebe, alles Dinge, von denen sie in ihrem kleinen muffigen Büro nur träumen konnten.
»Bleiben Sie auch länger, Herr Starnke? Ich habe noch einen Vorgang bekommen.«
Der junge Kommissar nickte. Er hatte ein fein geschnittenes Gesicht und war im Sitzen fast einen Kopf größer als Conradi. »Ja, aber es macht mir nichts aus. Hier habe ich mehr Ruhe als zu Hause. Meine Mutter hat ständig kleine Aufträge für mich, seit mein Vater nicht mehr da ist.«
»Wartet sie immer noch jeden Sonnabend mit ihrem Schild am Bahnhof?«
»Allerdings. Ich sehe sie freudig aufgeregt weggehen, wenn ein Transport aus Russland angekündigt ist, und bedrückt wiederkommen. Furchtbar ist das. Eine sehr belastende Situation, und das seit nunmehr zehn Jahren. In mir sieht sie eine Art Ersatz-Ehemann. Mal soll ich eine Glühbirne auswechseln, dann einen kaputten Wasserhahn reparieren oder ein Regal an die Wand dübeln. Nicht, dass ich das ungern mache, aber manchmal wird es mir zu viel, und heute geht nun einmal der Fußball vor. Das versteht sie nur leider nicht.«
»Ich muss gestehen, dass ich zwei linke Hände habe«, meinte Conradi kleinlaut. »Ich könnte das gar nicht. Meine Frau hat sich häufig über mich lustig gemacht. Für jeden Handgriff musste sie einen Handwerker holen.«
»Sie