Tod unterm Nierentisch. Alida Leimbach
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Im Großen und Ganzen bin ich zufrieden, denn ich habe alles, was ich brauche. Besonders schätze ich den gemütlichen Ohrensessel vor dem Fenster, in dem ich nach der Arbeit lese und Musik höre, wie jetzt gerade. Das Grundig-Radio, das auf dem Schreibtisch steht, habe ich letzte Woche bei Wischott gekauft, es war im Sonderangebot, hat einen prima Empfang, viel besser als unser altes Gerät. Kein Rauschen mehr, kein Verwackeln der Sender. Der Ton der Musik ist so brillant, als würde ich mich in einem Konzertsaal befinden, und die Stimme des Sportmoderators klingt glasklar, als wäre er direkt nebenan. Die Fußballweltmeisterschaft ist nämlich im Gange, eine wunderbare Abwechslung vom schnöden Alltag. Spannende Spiele, auf die ich mich freue. Heute spielte Deutschland gegen die Türkei und hat tatsächlich 4:1 gewonnen. Das hätte ich nie für möglich gehalten! Du hättest dich vermutlich währenddessen mit deinen Freundinnen ins nächste Café verdrückt, Fußball hat dich ja nie wirklich interessiert.
Inzwischen ist es fast neun am Abend. Eben habe ich eine Pause gemacht, um Abendbrot zu essen. Frau Westermann besteht darauf, morgen für mich zu kochen. Es gibt eine kräftige Rinderbouillon und zum Nachtisch eingelegte Pflaumen. Dank ihrer guten Pflege habe ich schon acht Pfund zugenommen. Es könnte mittlerweile auch mehr sein, denn eine Waage gibt es nur im Pottgrabenbad, und da war ich seit einer Woche nicht mehr, ich Schweinchen. Ich sehe dich den Kopf schütteln und mit mir schimpfen. Beruhige dich, Fredi, morgen gehe ich wieder und bleibe so lange in der Wanne, bis ich schrumpelig werde. Vorübergehend leistet die Waschschüssel gute Dienste, und dank Eau de Cologne hat sich noch niemand im Büro beschwert. Frau Westermann denkt, dass ein Kriegsheimkehrer wie ich viel Nachholbedarf hat, dabei war ich ja nicht mal in Russland, aber die Unterschiede sagen ihr nichts. Sie will sogar zu meinem Geburtstag am nächsten Mittwoch eine Buttercremetorte für mich backen. Ich freue mich, weiß aber auch, dass ich danach Magendrücken haben werde.
Du, ich habe Angst vor meinem Geburtstag. Ein weiterer Geburtstag ohne dich. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie du zur Tür hereinkommst, mir einen Kuss gibst, dich auf meinen Schoß setzt und deine Arme um meinen Hals schlingst. Ich höre deine Stimme, sehe deine lachenden Augen, deine Grübchen und die zarte Röte deiner Wangen. Ich fühle deinen Kopf in meiner Halsbeuge, deine braunen verwuschelten Haare, die weichen Rundungen deines Körpers. Ich erinnere mich noch an deinen Duft. Den vergesse ich nie, ein wenig nach Mandeln, Vanille und Honig. An meinem Geburtstag werde ich besonders an dich denken, voller Sehnsucht, mein Engel. Ich werde mich nach dir verzehren, wenn ich mit vollgeschlagenem Bauch auf dem Bett liege und die Rosen an der Tapete zähle. Ach, du, Fredi, wenn du wüsstest, wie sehr du noch immer in meinem Herzen bist! Hätte ich einen Wunsch frei, dann würde ich mir wünschen, dich noch einmal in den Arm zu nehmen und ganz lange festzuhalten, nein, für ewig festzuhalten und niemals mehr freizugeben.
In ewiger Liebe
Dein Johann
4. Kapitel
Mittwoch, 23.06.1954
Die Ladenglocke bimmelte, als der Mann die Tür aufstieß. Im Salon befanden sich nur zwei Personen, Friseur Rolf Schmalstieg und ein männlicher Kunde.
»Augenblick, ich komme gleich!«, rief Schmalstieg, ohne von seiner Arbeit aufzusehen.
»Keine Eile«, sagte der Mann und blieb hinter dem Garderobenständer stehen.
Der Kunde rauchte. Strenger Zigarrendunst waberte durch den Salon und überdeckte die parfümierten Düfte.
»Jetzt noch Kundschaft?« Die Stimme des Rauchers war etwas heiser. Er räusperte sich. »So kurz vor dem Spiel?«
Der Mann hinter dem Garderobenständer zuckte zusammen. Er kannte diese Stimme. Er kannte sie gut.
»Einen Haarschnitt werde ich noch schaffen«, sagte Schmalstieg. »Die Spiele sind im Moment so langweilig, dass ich nicht unbedingt von Anfang an dabei sein muss. Meine Frau wird mir davon erzählen. Ich hoffe nur, dass nicht gleich in den ersten paar Minuten ein Tor fällt. Dann würde ich mich vielleicht ein klein wenig ärgern.«
Der Kunde ließ ein beifälliges Grunzen ertönen.
Der Mann konnte keinen klaren Gedanken fassen. Am Garderobenhaken hingen mehrere Jacken, Mützen und Hüte, darüber ein Hinweisschild, man möge bitte auf seine Garderobe achten. Anscheinend hatten einige Kunden das so wenig getan, dass sie ihre Sachen dort vergessen hatten. Es gab alles wieder im Überfluss. Wirtschaftswunder, sie waren mittendrin. Niemand musste mehr Löwenzahn und Brennnesseln sammeln für die Suppe am Abend, Kartoffeln vom Feld organisieren oder Beeren pflücken, um Kompott daraus zu machen.
Draußen rumpelte ein Lastwagen vorbei. Eine Frau schrie mit gellender Stimme hinter einem Kind her. Es schien noch einmal gut gegangen zu sein, denn auf ihren Schrei folgten wüstes Geschimpfe und daraufhin das durchdringende Brüllen eines Kleinkindes.
»Sie wollten mir noch etwas sagen«, stellte der Raucher fest, nachdem sich die Situation draußen beruhigt hatte.
Der Mann hinter dem Garderobenständer hielt den Atem an.
»Lieber ein anderes Mal, wir sind nicht allein.« Der Friseur räusperte sich und dämpfte seine Stimme. »Vielleicht morgen früh in meinem Büro. Um 8 Uhr, da ist noch keine Kundschaft da. Wird nicht lange dauern.«
»Bitte verschonen Sie mich mit einer weiteren Hiobsbotschaft.«
»Na ja … Stellen Sie sich darauf ein, dass es kein gemütlicher Kaffeeklatsch wird.«
Für ein, zwei Minuten war nur das Schaben des Rasiermessers zu vernehmen, dann folgten trappelnde Schritte und die helle Stimme eines Kindes. »Dauert’s noch lange? Mutti will das wissen. Oben ist alles fertig. Das Spiel fängt gleich an.«
»Sag ihr, ich brauche noch etwas Zeit. Einen Herren bediene ich noch, dann mache ich zu.«
»Gut, aber wirklich bald kommen«, sagte das Kind und ging wieder.
Der Mann hinter dem Garderobenständer ballte seine Hände zu Fäusten, die sich plötzlich eiskalt und taub anfühlten, als gehörten sie nicht zu ihm. Kalt wurde sein ganzer Körper, während sein Herz hart in seiner Brust schlug. »Mutti will das wissen … Das Spiel fängt gleich an«, dröhnte es in seinen Ohren. Es ging nicht anders. Er musste es tun. Die Zeit drängte. Es gab kein Zurück mehr.
*
Lieselotte Korittke blickte betrübt aus dem Fenster. Vom Sommer keine Spur. Es war kühl, regnerisch und windig. Jagende Wolken bedeckten den Himmel, der dunkel und schwer über der Stadt lag. Nachdenklich zog sie die Gardine zu und staubte den niedrigen Nussbaumschrank ab. Äußerlich wirkte er wie eine hübsche, etwas größere Kommode, aber sein Innenleben war eine Überraschung, mit der niemand rechnete: ein nagelneuer Telefunken befand sich darin, außerdem Radio und Schallplattenspieler! Es war eine Sünde, die sie sich eigentlich nicht leisten konnten. Sie und Rolf lebten über ihre Verhältnisse. Was hatten sie sich allein in den letzten zwei Jahren alles gegönnt! Allem voran den Salon, sie hatten ihn eigenhändig modernisiert und viel Arbeit hineingesteckt. Rolf hatte den Führerschein gemacht und sich den Traum von einem fabrikneuen Volkswagen erfüllt. Die Miete für den Salon und die dazugehörige Wohnung war teuer, denn die Wohnung verfügte sogar über eine Zentralheizung und ein Badezimmer mit Badewanne und Fliesen.
Lieselottes