Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa. Joachim Bitterlich

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Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa - Joachim Bitterlich

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geäußert, leider hielt die Quelle nicht dicht, sondern suchte die Schlagzeile! Folge war ein wütender Bundeskanzler, der François Scheer am liebsten sofort nach Paris schicken wollte. Nur, eine Erklärung des Botschafters des engsten Partners zur „persona non grata“ hätte leicht dazu geführt, dass dieser professionelle Bock seines Pressereferenten außer Kontrolle geraten würde. Bundesaußenminister Klaus Kinkel wie auch ich versuchten den Kanzler zu besänftigen und die Affäre tiefer zu hängen. Der Kompromiss bestand am Ende darin, dass er in das Auswärtige Amt „einbestellt“ wurde. François Scheer hielt sich danach gegenüber der Öffentlichkeit sehr zurück, die Gespräche mit diesem kritischen, nach außen ohnehin kühlen Geist habe ich immer geschätzt – er hatte das Glück, wie seine Vorgänger um sich eine exzellente Mannschaft zu wissen. Die Verbindung in das Kanzleramt wurde damals in diskreter, informeller Weise von Claude-France Arnould gehalten, spätere Chefin der Europäischen Verteidigungsagentur EDA und Botschafterin in Belgien. Die französische Schule war „schuld“ an dieser besonderen Schiene. Meine Frau und ich waren mit der Schule dank unserer Kinder, dank der Tätigkeit meiner Frau und meiner Funktion in der Führung durch die Elternschaft eng verbunden. Wir lernten uns auf diese Weise kennen und schätzen. Sie wurde in jenen Jahren zu einer unserer besten Freundinnen und so entstand zugleich ein informeller, effizienter Kanal zwischen der Botschaft und mir.

      Das Verhältnis zu Frankreich war Gegenstand des permanenten Meinungsaustauschs zwischen Bonn und Paris – und natürlich haben wir wie die Franzosen auch Quellen außerhalb von Regierung und Parlament gesucht und konsultiert.

      Helmut Kohl stützte seine Politik gegenüber Frankreich nicht zuletzt auf eigene Erfahrungen mit dem Nachbarn aus seinen Jahren in Mainz und dann in Bonn auf der Bank der Opposition sowie vor allem auf Persönlichkeiten, auch und gerade außerhalb des „Apparates“.

      Im Grunde hat Kohl seine Gesprächspartner zur Geschichte, aber auch zu aktuellen Themen und Hintergründen befragt – Geschichte, Hintergründe, Umstände, Umfeld und die gesellschaftliche Entwicklung waren für ihn Schlüssel des Zugangs zu einem anderen Lande wie zu seinen führenden Persönlichkeiten.

      Einer seiner liebsten Gesprächspartner in Paris und über Frankreich war Professor Josef Rovan, er traf sich aber auch durchaus regelmäßig mit führenden Persönlichkeiten der französischen Gesellschaft – Journalisten, Historikern, Politikern. Distanz hielt er zu einer anderen großen Persönlichkeit im deutsch-französischen Verhältnis, zu Alfred Grosser! Er schien ihm parteipolitisch „auf der anderen Seite“ festgelegt, Grosser schien umgekehrt von Kohl wenig zu halten, zugleich wusste Kohl auch, wie sehr Alfred Grosser, in Frankreich und Deutschland zum gleichen Thema völlig unterschiedliches sagen konnte. Die Abneigung – und das musste ich über die Jahre erfahren – beruhte auf Gegenseitigkeit!

      Auch ich brauchte einige Zeit, um mit Alfred Grosser zurecht zu kommen, mich mit ihm freimütig auszutauschen, ihn zu respektieren und schätzen zu lernen. Die Schicksale von Alfred Grosser und Joseph Rovan, beide in Deutschland geboren und aufgewachsen, waren in gewisser Weise vergleichbar, sie stehen für die Schicksale einer ganzen europäischen Generation.

      Joseph Rovan, in München und Berlin aufgewachsen, jüdischer Herkunft, glaubte, dem NS-Regime durch die Flucht nach Frankreich zu entrinnen, seiner neuen Heimat leistete er Beistand, er schloss sich der Résistance an, wurde festgenommen, gefoltert und in das KZ Dachau verschleppt. Dort lernte er einen französischen Jesuiten kennen, mit dem er – noch im KZ – eine Bewegung zur Aussöhnung mit Deutschland gründete. Er wurde zum Vorbild für seine Generation und für die Jugend. Unermüdlich versuchte er die Brücke zwischen seiner alten und neuen Heimat zunächst wiederaufzubauen, sie zu festigen und sie zu verbreitern Er war ein unermüdlicher Übersetzer, Mittler, Antreiber, Mahner, vor allem aber auch Bindeglied. Sein großes Werk über die deutsche Geschichte – eines der besten Darstellungen dieser Art überhaupt – bildete in gewisser Weise sein Vermächtnis. Rovan hatte immer eine offene Tür beim Bundeskanzler – und ich, wenn man so will – die Arbeit!

      Einer seiner Ideen war die „notwendige Vernetzung“ von Elysée und Bundeskanzleramt, um einen permanenten Gesprächsfaden und Austausch herzustellen. So trug er – ohne Erfolg – dem Bundeskanzler den Gedanken eines Beamtenaustauschs vor. Die von uns allen hoch geschätzte Sophie-Caroline de Margerie, die die Nachfolge von Elisabeth Guigou übernommen hatte, sollte aus seiner Sicht in das Bundeskanzleramt abgeordnet werden, während ich für diese Zeit in die Elysée gehen sollte.

      Bis zu seinem Tode im Jahre 2004 blieb Joseph Rovan der ruhelose, leidenschaftliche Intellektuelle. Ihm verdanke ich auch in jenen Jahren den Zugang zu einem Kreis Pariser Intellektueller – „Cassiodore“ um Jean-Marie Soutou, Jorge Semprun und anderen. Und der oft sehr eigenwillige Joseph Rovan berief mich in den Vorstand dieses Kreises – was ich erst Jahre später beiläufig erfahren habe.

      Für Helmut Kohl war es selbstverständlich, 2004 anlässlich der Totenfeier für Joseph Rovan nach dessen tragischem Tod nach Paris zu kommen und seinem Freund zu gedenken. Beschämend auf uns musste damals die Abwesenheit der Pariser Politik wirken!

      Joseph Rovan ist für mich eines der zahlreichen Beispiele für die Fehleinschätzung eines Helmut Kohl durch die Medien wie durch manche Universitätslehrer und Philosophen, die weder Rovan noch Kohl ernst nahmen. Seit einiger Zeit verleiht die französische Seite einen „Joseph-Rovan-Preis“ für Verdienste im deutsch-französischen Verhältnis. Ich frage mich allerdings, ob die bisherige Praxis der Bedeutung dieses Mannes gerecht zu werden vermag. Für mich wäre es zudem angemessen gewesen, das Vorschlagsrecht für den Preisträger dem Präsidenten und dem Bundeskanzler zu überlassen.

      Helmut Kohl akzeptierte in gleicher Weise meine ständige Einladung und Aufnahme in einen anderen Pariser – politischen – Kreis, den von Simone Veil und ihrem Mann Antoine gegründeten „Club Vauban“, in dem alle wichtigen französischen Politiker der „Mitte“ vertreten waren, von Sozialisten bis hin zu Gaullisten. Dies waren um 40 Persönlichkeiten, darunter waren auch Politiker, die bis heute im Vordergrund stehen, sei es z.B. Yves Le Drian, den heutigen Außenminister, Xavier Bertrand, den Präsidenten des Regionalrates des Norden Frankreichs, oder Jean-Louis Bourlanges, den wortgewaltigen liberalen Abgeordneten. Es war ein Ort, der mir einen anderen Einblick in die französische Politik und in die Parteien verschaffte, mir aber zugleich erlaubte, in diesem Kreis immer wieder deutsche Politik zu „dechiffrieren“. Versuche, ähnliche Kreise aufzubauen, gab es auch in der Bonner Republik, wenn auch mit mäßigem Erfolg.

      Helmut Kohl und die „kleineren Mitgliedstaaten“

      Helmut Kohl ermunterte mich immer wieder, mich intensiv nicht nur um die „Großen“, allen voran Frankreich, zu kümmern, sondern ganz besonders um die kleineren Partner – sein Paradebeispiel war Luxemburg, letztlich stellvertretend für die vielen andern. Er war sich bewusst, er konnte für alle Partner nicht die gleiche Zeit aufwenden, und doch bemühte er sich intensiv darum, gerade auch für diese Länder ein vertrauensvoller Partner – auf gleicher Augenhöhe – zu sein.

      In all den Jahren konnten die Beziehungen ob zu Luxemburg, zu Belgien oder zu Dänemark, Schweden oder Finnland nicht besser sein. Ein Jacques Santer und später vor allem Jean-Claude Juncker, Wilfried Martens oder Jean-Luc Dehaene, Carl Bildt oder Sozialdemokraten wie Paavo Lipponen oder Poul Nyrup Rasmussen, um nur einige zu nennen, waren Kernbestandteile des Kohl'schen Netzwerkes und Freundeskreises in Europa. Parteipolitische Grenzen spielten dabei nur selten eine Rolle.

      Unvergesslich bleibt mir der dänische Ministerpräsident Poul Nyrop Rasmussen, Sozialdemokrat, der mir gegenüber noch lange Jahre danach von diesen Beziehungen und der Rücksichtnahme auf seine innenpolitischen Schwierigkeiten nahezu schwärmte: Wir

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