Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa. Joachim Bitterlich
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Höhepunkte der Kontroversen mit Chirac waren schließlich 1997/98 die Dispute mit ihm in der Schlussphase zum Euro sei es über den Stabilitätspakt sei es um den ersten Präsidenten der EZB, die untrügliche Zeichen dafür wurden, dass auch das deutsch-französische Verhältnis seine Tiefen hatte oder zwangsläufig haben musste.
Darauf ist im Rahmen der Europa-Politik weiter einzugehen – doch Chirac war ein „Sponti“. Er konnte beinhart verhandeln, anschließend himmel-hoch-jauchzend und freundschaftlich sein.
So hatte er Helmut Kohl früh in seine Absicht eingeweiht, die Wehrpflicht abzuschaffen. Helmut Kohl versuchte in intensiven Gesprächen vergeblich, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Für Jacques Chirac blieb die fehlende Wehrgerechtigkeit im französischen System das ausschlaggebende Argument. Er sah nicht die Chance, dieses Manko zu überwinden. Es gab natürlich ein zweites Argument, das Chirac aber nicht nutzte – das war die nüchterne Kosten-Nutzen-Analyse der Franzosen, der Helmut Kohl bestimmt als kurzsichtig widersprochen hätte.
In ähnlicher Weise war Jacques Chirac bemüht, in Kenntnis der deutschen Sensibilität um das Thema „Nuklear“ dem Bundeskanzler die Hintergründe und Ziele der Wiederaufnahme der französischen Kernwaffenversuche zu erklären. Helmut Kohl verstand die Bedeutung des Themas für Jacques Chirac, hörte interessiert zu, machte eine gute Miene zu dem Spiel...
1997 wurden wir Zeuge der dritten „Cohabitation“ à la française, eines Präsidenten mit einem Premierminister und einer Regierungsmannschaft aus unterschiedlichen politischen Lagern. Diesmal erstmals für uns ein Präsident der „Rechten“ – wenn dieses Bild auch nur eingeschränkt erlaubt ist – mit einem Premierminister und einer Regierung der „Linken“.
Die Mitsprache bzw. das letzte Wort des Präsidenten beschränkte sich in Ausübung seiner verfassungsmäßigen Vorbehaltsrechte auf die Außen- und Sicherheitspolitik und damit auch auf die Bestellung des Außen- und Verteidigungsministers.
Ich hatte die Chance, während dieser Zeit jederzeit den alten Freund und Weggefährten Hubert Védrine, der Außenminister geworden war, anrufen und mit ihm sprechen zu können. Er erleichterte auch den Zugang zur Mannschaft um Lionel Jospin, dessen zunächst spröde wirkende, nüchterne, abwägende Art der Bundeskanzler bald zunehmend schätzen lernte. Er war in gewisser Weise berechenbarer, verlässlicher als Jacques Chirac.
Das gleiche galt leider weniger für einige Mitarbeiter seines Kabinetts, mit denen ich mich auseinandersetzen musste. In jener Zeit wurde ich „Opfer“ des wohl einzigen Bruchs der Vertraulichkeit im Verhältnis zu den Kabinetten des Präsidenten und Premierministers. Schade, aber wohl in dem „Spektakel“ Politik nicht zu vermeiden! Die Kollegen um Jospin wollten einfach nach außen unterstreichen, dass nicht der Präsident Frankreich alleine führte, sondern dass auch der Premierminister ein Wort mitzureden hatte.
Valéry Giscard d'Estaing
Erwähnen muss ich in dieser Reihe das Verhältnis von Helmut Kohl zu Valéry Giscard d'Estaing. Man konnte es im Grunde sehr klar als ein „Nicht-Verhältnis“ geprägt durch eine „herzliche gegenseitige Abneigung“ charakterisieren. Für Giscard war Helmut Schmidt alles und umgekehrt hielt Kohl Distanz zu ihm.
Chirac suchte ab Anfang seiner Amtszeit 1995 fast krampfhaft eine Aufgabe für Giscard auf europäischer Ebene. Er wollte um jeden Preis vermeiden, ihm eine besondere Aufgabe in Frankreich zu geben, er mache ihm zu Hause nur Schwierigkeiten. Daher das Ziel einer angemessenen Beschäftigung auf europäischer Ebene – und Helmut Kohl schien eingedenk seines Misstrauens gegenüber Giscard taub auf diesem Ohr. Letztlich war es dann Gerhard Schröder, der den Vorschlag Chiracs, „VGE“ mit dem Vorsitz der „EU-Konvention“ zu betrauen, laufen ließ.
Der Zufall wollte es, dass ich ab 2003 in Paris regelmäßig mit ihm zusammentreffen sollte. Er war der Ehrenpräsident des „Comités France-Chine“, des China-Ausschusses des französischen Arbeitgeberverbandes MEDEF und ich gehörte aufgrund meiner Tätigkeit für Veolia zum Vorstand dieses Ausschusses. Ich habe in jenen Jahren von diesem hochgebildeten Präsidenten nicht nur in Sachen China viel gelernt. Wesentlicher Gegenstand unserer Gespräche war immer wieder Europa, auch und gerade während der Konvention. In jener Zeit wurde ich in gewisser Weise zu seinem regelmäßigen „Sparringspartner“ – und immerhin kam ihm dann von Zeit zu Zeit eine respektvolle Bekundung über Helmut Kohl über die Lippen, natürlich immer nach Helmut Schmidt.
„VGE“ ist am 2. Dezember 2020 im Alter von 94 Jahren verstorben. Er hat Frankreich damals grundlegend verändert, modernisiert – ein tragendes Beispiel waren die Rechte der Frau, er legalisierte die Abtreibung, erlaubte der Frau, ein eigenes Bankkonto ohne die Zustimmung des Ehemannes zu eröffnen. Er war zugleich ein Präsident voller Widersprüche, sein Credo lautete: liberal, sozial, europäisch – wichtig für uns Deutsche war sein Engagement für Europa auf Grundlage der deutsch-französischen Zusammenarbeit – Bundeskanzlerin Angela Merkel hat ihn zu Recht gewürdigt: Frankreich hat einen Staatsmann verloren, Deutschland einen Freund und wir alle einen großen Europäer!
Ich könnte über eine Vielzahl von Begegnungen mit anderen Franzosen berichten. Ich greife bewusst René Monory heraus, der Kohl eine Première verschaffte. Der Bundeskanzler war der erste ausländische Staats- und Regierungschef, der im Senat in Paris gesprochen hat. Die Idee zu diesem Unternehmen hatte sein Kabinettchef, Jean-Dominique Giuliani, seit einigen Jahren Präsident der angesehenen Robert-Schuman-Stiftung in Paris. Er trug mir diese Einladung Monorys, 1992–98 Präsident des Senats, vor, und der Bundeskanzler stimmte zu und sprach am 13. Oktober 1993 im Senat.
Jean-Dominique, der einer meiner und unserer besten Freunde in Paris geworden ist, und ich diskutierten die Risiken, vor allem die mögliche Perzeption auf Seiten Mitterrands, seine Mannschaft erhob keine Einwände.
Ich bin überzeugt, wäre die Einladung vom Präsidenten der Nationalversammlung – damals auch in den Händen der Konservativen, hätte der Präsident vielleicht reagiert, so aber letztlich vor dem Hintergrund der besonderen Stellung des Präsidenten des Senats ließ der Elysée die Einladung „laufen“. Im französischen System ist der Präsident des Senats für bestimmte Fälle die Nummer 2 des Staates, der das Amt des Präsident ad interim im Falle der Vakanz des Amtes des Präsidenten oder im Falle dessen Verhinderung ausübt.
Botschafter
Angesichts der permanenten Direktkontakte zwischen Bonn und Paris hatten die beiden Botschafter eine undankbare Aufgabe, in gewisser Weise mussten sie daher ihr Amt neu erfinden, um nicht „mission impossible“ nach Hause zu melden.
In Bonn galt dies zunächst für Serge Boidevaix in der höchst sensiblen Zeit um die Wiedervereinigung. Er wusste damals nicht, dass ich seine, angesichts der verbreiteten Skepsis an der Seine gegenüber Deutschland recht vorsichtig geschriebenen Berichte öfters in Paris lesen durfte – die Kollegen in Paris wollten mehr Sicherheit über die Bonner Intentionen haben. Sein Nachfolger Bertrand Dufourcq blieb nur ein gutes Jahr – der erfahrene Verhandler der äußeren Grundlagen der deutschen Einheit wurde in Paris als Generalsekretär des Außenministeriums, des Quai d'Orsay gebraucht.
Ihm folgte im November 1993 der Straßburger François Scheer, einer der erfahrensten Diplomaten des Quai d'Orsay. Zusammen mit meinem Freund Bernard Kessedjan war er 1992 in der Affäre um den Palästinenser-Führer Georges Habache auf Forderung der damaligen