Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa. Joachim Bitterlich
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Zugleich sorgt die Einbettung in die europäische Integration dafür, Deutschland mit seiner Größe und Geschichte, aber auch ein wenig aufgrund unseres Charakters für die anderen Europäer verkraftbar, „erträglich“ erscheinen zu lassen. Dies bedeutet nicht, dass wir nur schlucken, alles hinnehmen müssen, nein, wir müssen vielmehr alles daran setzen, dass diese Entwicklung mit unserem wohlverstandenem Interesse übereinstimmt. Ein deutsches „Fremdeln“ im Verhältnis zu Europa, eine sichtbare Dominanz trägt unwillkürlich zu einem Abwehrverhalten seitens der Partner, ja zu einer Renationalisierung in Europa bei. Dies setzt ein gesundes Maß an Bescheidenheit, an permanenter Vertrauensbildung und auch an Selbstbewusstsein voraus, wobei es uns Deutschen aufgrund unseres Charakters mitunter nicht leichtfällt, das richtige Maß zu finden. Es wird von uns ein Maß an psychologischem Geschick verlangt, das uns in unserer Geschichte selten gelungen ist.
Dies gilt zum Beispiel ganz besonders für das Verhältnis zu den kleineren Mitgliedstaaten. Eine der großen Stärken von Helmut Kohl im europäischen Konzert war die Pflege des Verhältnisses zu dieser Mehrheit der Mitgliedstaaten. Er ermahnte uns Mitarbeiter unablässig, bei aller Notwendigkeit der engen Zusammenarbeit mit Paris, London, Madrid, Rom oder zunehmend auch Warschau immer ein offenes Ohr für die Anliegen und Auffassungen der kleineren Mitgliedstaaten zu haben.
So wichtig es sei, mit Frankreich die besten und engsten Beziehungen zu pflegen, so wichtig sei es, mit den anderen Partnern, insbesondere mit den kleineren Ländern eng und vertrauensvoll zusammen zu arbeiten. Die Beispiele „Luxemburg“ oder „Dänemark“ standen insofern für viele andere Partner und schloss aber auch die anderen „Großen“ ein – ob das Vereinigte Königreich, Italien, Spanien oder Polen.
Ein nordischer Politiker, früherer sozialdemokratischer Ministerpräsident eines dieser kleineren Länder, bestätige mir dies mehrfach mit den Worten: „In der Kohl-Ära wussten wir, dass wir bei Euch gut aufgehoben sind. Wir konnten uns auf Helmut Kohl immer verlassen. Er hat uns nie übervorteilt oder im Regen stehen lassen. Wenn ich ein echtes Problem mit Brüssel, anderen Mitgliedstaaten oder selbst zu Hause hatte, konnte ich ihn immer erreichen oder Dich als Überbringer nutzen. Ihr habt uns Kleine nie über den Tisch gezogen, sondern uns geholfen. Leider ist dies vorbei“.
Oder nehmen wir die in Deutschland immer wieder aufkeimende Debatte über den „Zahlmeister Europas“. Es ist richtig, wir haben über die Jahre, gemessen an dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf als der wohl vernünftigsten Messzahl, mehr in die Brüsseler Gemeinschaftskasse gezahlt als wir daraus erhalten haben. Deutschland ist der größte Nettozahler. Heute sind dies jährlich über 13 Mrd. €. Auf der anderen Seite steht Polen mit über 12 Mrd. € als der größte Nettoempfänger 2
Mir scheint indes, dass es diesen Geistern nicht bewusst war und ist, wie sehr Europa zu unserem Wohlstand beiträgt. Ein Gutteil unserer Exporte geht nach EU-Europa, sie bilden trotz aller Globalisierung unverändert das „Rückgrat“ der deutschen Wirtschaft. Hätten wir nicht offene Grenzen und den europäischen Binnenmarkt, so wäre ein solches Maß an Wohlstand nie möglich gewesen. Natürlich müssen die Wirtschaft selbst wie auch die Politik bei der Setzung der Rahmenbedingungen darauf achten, dass weder daraus noch aus den Exporten in andere Weltregionen zu grosse Abhängigkeiten entstehen.
Und es steht auf einem anderen Blatt, dass es selbstverständlich ist, für einen gerechten oder zumindest zu rechtfertigenden Beitrag einzutreten. Wir sind mit der europäischen Ausrichtung, die von allen bisherigen Bundesregierungen mit unterschiedlicher Intensität mitgetragen wurde, in Wahrheit gut gefahren.
Heute ist Deutschland zum ersten Male in seiner Geschichte nur von Ländern umgeben, mit denen es in Frieden und Partnerschaft lebt. Wie anders hätte bei uns wie in Europa über die Jahre ein solches Maß an Wohlstand, an sozialer Sicherheit entstehen können, wie anders könnten wir heute auf über ein halbes Jahrhundert Frieden, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat zurückblicken. Darauf können und sollten wir Deutschen und Europäer stolz sein.
Aus all diesen Prämissen folgen ganz natürlich die grundlegenden Prioritäten der Außenpolitik Deutschlands, vor und erst recht seit der deutschen Wiedervereinigung: Frieden und Freundschaft mit allen Nachbarn und vor allem die europäische Integration, aufbauend auf dem deutsch-französischen Verhältnis.
Eckpfeiler deutscher Außenpolitik
In diesem Sinne waren für Helmut Kohl vier Eckpfeiler oberste Richtschnur und zugleich Leitmotiv deutscher Außenpolitik als Grundlagen für die bestmögliche Vertretung unserer vitalen deutschen Interessen:
Erstens: Das Ziel der Wiedervereinigung des deutschen Volkes in Frieden und Freiheit nie aus den Augen verlieren, dabei immer das Schicksal der Menschen in einem geteilten Land zu beachten und erstes Augenmerk auf die Konsequenzen für sie zu setzen.
Zweitens: Ein enges, vertrauensvolles deutsch-französisches Verhältnis, ähnlich in seiner Zielsetzung auch mit allen unseren Nachbarn, als Basis vor allem auch der europäischen Politik
Drittens: Das Engagement für die europäische Integration mit einem guten partnerschaftlichen Verhältnis zur Kommission und nicht nur zu Paris, London, Madrid oder Rom, sondern vor allem zu den kleineren Mitgliedstaaten.
Viertens: Eine möglichst enge Partnerschaft mit Washington als unserem engsten Verbündeten in der NATO, dem entscheidenden Garanten unserer Sicherheit und Freiheit in Europa, aber auch ein gutes Verhältnis mit Moskau und Peking.
Diese vier Eckpfeiler sollten nie als eine exklusive Ausrichtung der Politik oder eine Vernachlässigung unserer Interessen gegenüber anderen Ländern und Regionen der Welt missverstanden werden.
Man müsste hier, auch durch die Geschichte geprägt, viele Beispiele nennen.
Hervorzuheben ist das Verhältnis zu dem Staate Israel, eine Beziehung, die seit Konrad Adenauer immer ein ganz besonderes Gewicht für die deutsche Politik und Außenpolitik gehabt hat und unverändert hat – eine Beziehung, die wie Helmut Kohl auch mir besonders am Herzen lag und der immer wieder ein ganz besonderer Einsatz galt. Ähnliches gilt für das Verhältnis zu Polen, aber auch zu anderen Nachbarn wie Luxemburg oder die Niederlande.
2. Deutschland – Frankreich – und die „anderen Partner“?
Für Helmut Kohl war die Beziehung zu Frankreich Grundlage und Schlüssel der europäischen Einigung. Was aber in keinem Falle für ihn bedeutete, das Beziehungsgeflecht und die Qualität des Verhältnisses zu den anderen Partnern zu vernachlässigen, im Gegenteil!
Ich widerstehe der Versuchung, die Grundlagen und Entwicklung deutscher Europapolitik anhand der deutsch-französischen Gipfelbegegnungen und -konsultationen sowie Ministerräte von Mitte der 80er Jahre, wie ich sie erlebt habe, nachzuvollziehen. Auf die eine oder andere Begegnung werde ich eingehen müssen, ich möchte den roten Faden vielmehr durch die Themen und führenden Persönlichkeiten finden.
Wir waren uns immer bewusst, dass ohne eine deutsch-französische Verständigung die europäischen Herausforderungen nicht zu bewältigen sind. Ebenso klar war es uns auch, dass eine gemeinsame deutsch-französische Haltung für die Gesamtheit der Mitgliedstaaten nicht automatisch akzeptabel sein muss. Und doch war es uns immer offensichtlich, dass von der Fähigkeit Deutschlands und Frankreichs zu einem tragfähigen Kompromiss die Zukunft der europäischen Integration abhängig ist. Dies gilt heute in einer Union von 28 bzw. 27 Mitgliedstaaten