Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa. Joachim Bitterlich

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Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa - Joachim Bitterlich

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wie er selbst den Wahlkampf um die Volksabstimmung des 23. Oktober 1955 im Saarland, die Spaltung innerhalb der deutschen Parteien, erlebt hatte, ja insgeheim versteckt im Vorführraum eines Kinos einem der Wahlkampfauftritte von Johannes Hoffmann zugehört hatte.

      Folge war, dass ich mich weitaus intensiver mit saarländischer Geschichte beschäftigte, mit dem damaligen Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann, genannt „Joho“, einem streitbaren Saarländer, Katholik und Antifaschisten, der engen Kontakt zu Robert Schuman hielt, einem der „Gründungsväter“ des modernen Europa. So wie Johannes Hoffmann hatte der in Luxemburg geborene Lothringer leidvoll die Konsequenzen von Grenzen erfahren. Schuman hatte in Paris Erfolg, für die Ideen von „Joho“ schien die Zeit noch nicht reif – auch wenn es dann weitaus schneller ging als im ersten Augenblick gedacht.

      Oft genug berichtete Helmut Kohl eher beiläufig über Geschichtsbücher, die er gerade las. Er las Gute, sagte aber auch oft, dass er auch aus seiner Sicht Schlechte gefunden hatte. Kohl war für mich mehr als der ideale Rezensent. Er trug wesentlich bei mir dazu bei, mich immer wieder mit dem geschichtlichen Hintergrund von einzelnen Ländern zu befassen. Helmut Kohl interessierte sich für andere Länder.

      Er versuchte bei Reisen immer wieder ein Minimum an Zeit aus dem offiziellen Programm regelrecht „herauszuschinden“, um sich einen ersten Eindruck, einen Einblick zu verschaffen, eine Ambiance, Stimmungen aufzunehmen. Zwei typische Beispiele seien erwähnt: Bei einer der Reisen nach Paris standen ein Treffen und Mittagessen mit Jacques Delors in dessen Lieblingsrestaurant am Anfang des Boulevard St. Germain auf dem Programm und dann der übliche Abendtermin im Elysée. Ich hatte nicht näher auf das Programm geschaut und mir war ein „Loch“ von gut zwei Stunden nicht weiter aufgefallen.

      Als wir das Restaurant verließen, bedeutete mir der Bundeskanzler, übergeben Sie Ihre Tasche dem Fahrer, wir machen einen Spaziergang durch das Quartier Latin, wo Sie ja einmal studiert haben, und wir laufen dann bis zum Hotel Bristol in der Rue du Faubourg-St. Honoré in der Nähe des Elysée – auf gut Deutsch: einmal quer durch Paris! Der Sicherheit bedeutete er, bitte Abstand halten und uns unauffällig begleiten!

      Wir wanderten durch das Quartier Latin, Helmut Kohl schaute in Buchhandlungen, Geschäfte, wurde natürlich erkannt, ich wurde zum Fotografen fürs Familienalbum. Selfies waren damals noch nicht in Mode! Wir nahmen einen Kaffee in der Nähe der Kirche von St. Germain und landeten dann auf der anderen Seine-Seite im großen, damals noch bestehenden Kaufhaus „La Samaritaine“, durch das wir in Ruhe schlenderten. Der Bundeskanzler schaute sich das eine oder andere an, verglich Preise, Herkunft und Qualität!

      Er war glücklich am Ende des Spaziergangs, war er doch mal wieder dem Protokoll entronnen und hatte er doch einmal wieder wie ein Tourist oder normaler Bürger sich direkt Eindrücke verschafft.

      Das andere Beispiel für Helmut Kohls Neugier war Chicago, eine faszinierende Stadt – und Helmut Kohl hatte sich wohl den bestmöglichen Führer für eine mehrstündige Rundfahrt per Bus und Boot besorgt. Es war der bekannte Architekt Helmut Jahn, der uns mit Hilfe der Architektur zugleich die Geschichte und Realität dieser Metropole vermittelte. Ich bin in der Folgezeit immer gern nach Chicago gekommen, die Stadt wurde zu einer meiner liebsten amerikanischen Städte.

      Helmut Kohl war einfach neugierig geblieben, er wollte eigene Eindrücke gewinnen, über Städte, Länder und Menschen.

       „Vereinigte Staaten von Europa“?

      Der Historiker mag die zuweilen fehlende Schärfe oder die klare Definition, den eher generellen Charakter einiger der Vorstellungen bemängeln, die sich wie ein roter Faden durch nachstehende Betrachtungen der neunziger Jahre durchziehen. Und doch sie waren Ausdruck des Vorgehens von Helmut Kohl einerseits mit der notwendigen Realität oder Realpolitik, man kann das auch mit Fug und Recht als einen gesunden Pragmatismus bezeichnen. Dahinter steckte jedoch immer zugleich eine „Vision“, ein „Kompass“ auf längere Sicht!

      Ich nenne als Beispiel eine Diskussion, die ich bald nach meinem Antritt im Bundeskanzleramt mit ihm hatte. In regelmäßigen Abständen schrieb ich ihm zusammen mit meinen Mitarbeitern und stets unter Beteiligung des Teams um Michael Mertes Entwürfe für wichtige Reden, so im Herbst 1988 eine Europa-Rede, die er in Brüssel bei den „Grandes Conférences Catholiques“ halten sollte.

      Ich setzte darin bewusst ein Fragezeichen zu der seit langen Jahren bestehenden Zielvorstellung der „Vereinigten Staaten von Europa“. Mir schien der Begriff falsch, da er dazu geeignet war, Verwirrung insofern zu stiften als der Zuhörer diesen Begriff leicht mit den „Vereinigten Staaten von Amerika“ gleichsetzen würde – als ob wir in Europa eine „Kopie“ der USA erreichen wollten!

      Der Bundeskanzler akzeptierte nach längerer Aussprache meine Bedenken und relativierte erstmals in seiner Rede diese Zielvorstellung. Manchen in der CDU ging das zu weit – der Bundeskanzler hielt aber an seiner Relativierung fest, setzte aber keinen neuen Begriff. Auch den von Jacques Delors geprägten Begriff „Föderation der Nationalstaaten“ machte er sich nicht zu eigen.

      Er kannte auch meine Bedenken gegen den Begriff der „Europäischen Union“ und meine Vorliebe für ein Festhalten an dem Begriff „Europäische Gemeinschaft“. Er sprach stattdessen in der Folge immer wieder von „Politischer Union“, einen Begriff, den er mit seiner Initiative Ende 1989 setzte. interessanterweise steht „Politische Union“ heute für etwas anderes, für die notwendige Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion! Und genau so wenig ist es erstaunlich, dass er in den letzten Jahren seines Lebens aus meiner Sicht zunehmend einem Europa der Vaterländer nahe zu stehen schien!

      Kanzleramt und Bundespräsidialamt waren in Bonn Nachbarn und Berührungspunkte gab es politisch wie auch systemimmanent regelmäßig. Das Verhältnis war in meiner Zeit zunächst eher spannungsgeladen, später entspannter – es lag halt an den jeweiligen „Mietern“ im Palais Schaumburg bzw. der Villa Hammerschmidt.

      Ich spürte dies erstmals am eigenen Leibe im Jahr der deutschen Einheit. Meine Assistentin erreichte ein Anruf aus dem Vorzimmer des Bundespräsidenten, der Bundespräsident reise demnächst erstmals im Zuge der deutschen Einheit nach Frankreich, er würde es zu seiner Vorbereitung sehr begrüßen, wenn ich ihn briefen könnte.

      In Kenntnis des sensiblen Verhältnisses unterrichtete ich den Bundeskanzler und fragte, ob er damit einverstanden sei. Die Antwort war lächelnd „Ja, selbstverständlich – machen Sie sich ein eigenes Bild. Aber schimpfen Sie bitte hinterher nicht mit mir!“. Gesagt, getan, der Termin wurde vereinbart, ich bereitete mich vor, dem Bundespräsidenten zunächst kurz die französische Perzeption und Anregungen für mögliche Einlassungen seinerseits vorzutragen. Ich kam in der ersten halben Stunde trotz aller Bemühungen einfach nicht zu Wort, Bundespräsident Richard von Weizsäcker redete über Frankreich und die deutsche Einheit, eine Beurteilung meinerseits schien ihn gar nicht zu interessieren.

      Innerlich kochte ich langsam hoch, was sollte ich da überhaupt. Irgendwann war es mir gelungen, ein Atemholen des Bundespräsidenten auszunutzen und ihm direkt meine Erwägungen zu seinen letzten Bemerkungen zu erläutern und ihn höflich zu fragen, er habe mich doch rufen lassen, um ihn zu briefen, nicht aber …...Er schien irritiert, stellte mir einige kurze Fragen und dankte mir für den Besuch. Ich zog etwas verdattert von dannen!

      Ich war nicht lange in meinem Büro, als der Bundeskanzler mich zu sich rufen ließ – „Na, Bitterlich, wie war's?“ – Meinem Bericht hörte der Bundeskanzler lächelnd zu, er bemerkte gönnerhaft, er habe mir dies vorhersagen können, habe mir aber die Sache nicht verderben wollen, der Bundespräsident wisse halt mit zunehmender Amtsdauer alles besser als alle anderen,

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