Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa. Joachim Bitterlich
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Diese beiden Nachbarn, die zuweilen in den Medien verklärt als – wenn auch atypisches – (Ehe-)Paar bezeichnet werden, sind immer seitens der Medien, vor allem auch seitens der Partner immer mit größter Aufmerksamkeit und kritischem Argwohn beobachtet worden.
Immer wenn es in Europa gut lief und Deutschland und Frankreich sich mit gemeinsamen Initiativen an die Spitze der Bewegung stellten, so sprach man in manchen Ländern fast automatisch vom Risiko eines schädlichen Direktoriums.
Immer wenn sich Europa in einer krisenhaften Lage befand und die beiden Partner nicht einig waren, so war die Kritik nicht weniger deutlich – die Partner warfen dem Tandem vor, es vernachlässige seine gemeinsame europäische Verantwortung. Man kann auch ernüchternd feststellen, recht werden wir es niemandem machen können, versuchen wir daher grobe Fehler so weit irgend möglich zu reduzieren.
Die deutsch-französische Annäherung und Aussöhnung hat es nach dem Zweiten Weltkrieg erlaubt, das europäische Einigungswerk in Gang zu setzen und es bis weit in die 90er Jahre entscheidend vorangebracht.
Deutschland und Frankreich haben alle Fortschritte der europäischen Einigung bis hin zu den Verträgen von Maastricht und Amsterdam zum Teil durch spektakuläre Initiativen trotz oft gegensätzlicher Interessen und Persönlichkeiten immer wieder wesentlich gefördert bzw. den notwendigen Kompromiss möglich gemacht. Natürlich steckte hinter Initiativen oder Kompromissen angesichts widerstreitender Interessen und Standpunkte oft genug ein gehöriges Maß an Kraftanstrengung und politischem Willen aufeinander zuzugehen, und zwar auf beiden Seiten.
Dies galt nicht nur für das Zusammenwirken auf europäischer Ebene, sondern auch für das bilaterale Verhältnis, für besondere Gesten wie der gemeinsame Besuch in Verdun 1984, aber auch für Anstöße zur Vertiefung der Zusammenarbeit. Man denke z.B. an ARTE, an den deutsch-französischen Kulturrat, den Verteidigungs- und Sicherheitsrat, die deutsch-französische Brigade oder an den Finanz- und Wirtschaftsrat.
Zuweilen war die innenpolitische Seite in Paris oder Bonn-Berlin auch damit nicht oder nicht ganz einverstanden. Der Erfolg hat uns indes recht gegeben. Besonderes Beispiel auf europäischer Ebene ist die Wirtschafts- und Währungsunion. Die deutschen und französischen Positionen standen sich zu Anfang der Arbeiten in der Sache unversöhnlich gegenüber, Helmut Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing schienen zehn Jahre zuvor mit dem EWS das politisch mögliche erreicht zu haben. Die Franzosen versuchten zunächst, uns auf die Probe zu stellen, immer wieder Forderungen einzubringen, die für sie natürlich, für uns aber unannehmbar waren. Sie mussten einsehen, dass dieses Thema unseren Kompromissspielraum aufgrund seiner innenpolitischen Sensibilität nahezu auf Null schrumpfen ließ – und dass sie vielleicht doch besser damit fahren würden, wenn sie unserem Modell folgten.
Oder die Energiepolitik. Auch hier konnten – können auch heute noch – die Grundlagen und Perzeptionen nicht gegensätzlicher sein, dort das Land mit staatlich gelenkter Energiepolitik, mit Electricité de France, EDF, als der beherrschenden Staats-Gesellschaft, mit der Kernenergie als dem großen Energielieferanten – hier das Land mit den großen vier Energieversorgern, Oligopolen, mit den Stadtwerken, mit der tiefen Skepsis ja Angst vor der Kernenergie, mit der psychologisch überhöhten Stellung der Kohle, der besonderen Rolle des Gases (Russland!) und vor allem der erneuerbaren Energie – Wind und Sonne – als Fetisch! Ja, dies ist meine Kurzbeschreibung der Lage im Energiebereich! Komplizierter geht es kaum!
In den neunziger Jahren versuchten wir – der Freund und Kollege Sighart Nehring und ich – mit den Franzosen, einen „historischen“ Kompromiss zur Öffnung und Liberalisierung des europäischen Energiemarktes zu erreichen. Wir diskutierten stundenlang mit den Kollegen, loteten Möglichkeiten eines Kompromisses aus, hielten Rücksprache mit Verbänden, mit den Bundesländern, mit anderen Partnern. Wir schlugen schließlich den Franzosen einen stufenweisen Ansatz, Privat- und Industriekunden unterscheidend, vor, den die Franzosen dann nach einem gewissen Zögern zu Hause vertreten konnten, und der zur Richtschnur für den Kompromiss in Brüssel wurde. Es war übrigens Otto Wiesheu, der damalige bayerische Wirtschaftsminister, der uns auf diesen Pfad gebracht hatte.
Im Nachhinein muss ich freilich offen eingestehen, dass der damals gewählte Ansatz uns einer gemeinsamen europäischen Energiepolitik nicht näher gebracht hat, schade! Und ich musste Jahre später von außen, zugleich als Vertreter eines in dieser Branche tätigen großen Unternehmens, mitansehen, dass uns in Deutschland die erste – wie auch später die zweite – „Energiewende“ uns diesem Ziel auch nicht näher gebracht hat, im Gegenteil!
Und doch wartet Europa unverändert auf den „historischen Energie-Kompromiss“ zwischen Deutschland und Frankreich, zwischen dem Land, das an der Kernenergie festhält und dem, das stattdessen auf erneuerbare Energien setzt. Ein solcher – wünschenswerter und durchaus möglicher „historischer“ Kompromiss setzt freilich den Respekt vor der Wahl des Partners voraus und den Willen, gemeinsam Energieeffizienz und erneuerbare Energien zu entwickeln.
Die letzte EU-Kommission um Jean-Claude Juncker schien weitaus mehr als ihre Vorgänger, vielleicht auch dank der Vorarbeit seitens des von vielen so geschmähten und unterschätzten Kommissars Günther Oettinger, willens, einen gemeinsamen Energiemarkt und eine „Energie-Union“ in die Tat umzusetzen. Und doch, Fortschritte sind bis heute mehr als beschränkt! Unterschiedliche Auffassungen und Herangehensweisen, unterschiedliche Traditionen und Geschichten, systemimmanente Schranken – und vor allem unterschiedliche Perzeptionen sind geblieben und bereiten zunehmend Schwierigkeiten.
Ein ähnliches, zugleich ganz besonderes Beispiel ist die nukleare Verteidigung, ein Kapitel, in dem man mehr von außen eine im Grunde im Innern durchaus vorhandene Zwietracht mit Hilfe von Unterstellungen zu verstärken suchte.
Manche versuchten – ohne Erfolg – uns zu unterstellen, die Regierung Kohl habe trotz des klaren Verzichts auf Nuklearwaffen durch die Hintertür eine Beteiligung gesucht. Die Linie war immer klar, keine eigenen Waffen, aber Beteiligung im Sinne einer Teilhabe durch Einbeziehung in Konsultationen bzw. gemeinsam mit anderen Alliierten Unterstützung der Amerikaner beim Einsatz.
Für Präsident Mitterrand war der amerikanische Schutz Grundlage der Abschreckung des Westens gegen die Sowjetunion, die französischen Waffen waren auch wohl für ihn in Wahrheit komplementärer Natur. Frankreich wollte nicht allein von der amerikanischen Politik abhängig sein.
Zugleich verstand er, dass Frankreich, allein auf sich gestellt nicht nukleare Schutzmacht für Deutschland sein konnte. Er hatte aber Verständnis, ohne dass die Deutschen insoweit nachhaken mussten, für die kritische Lage für Deutschland als damaligem „Frontstaat“, vor allem in Bezug auf den möglichen Einsatz der französischen nuklearen Gefechtsfeld- oder Kurzstreckenwaffen im Rahmen der Vorneverteidigung des französischen Territoriums. Stichworte „Pluton“ und „Hades“! Von daher bot er dem Bundeskanzler Konsultationen vor einem eventuellen Einsatz an – dies bei einer Frage, die für beide Seiten von hoher politischer Sensibilität war. Klar war immer, dass das letzte Wort über den Einsatz beim französischen Präsidenten blieb. Eine Diskussion über Sinn und Zweck der französischen Nuklearverteidigung – über Sinn und Zweck des Plateau d'Albion, der Luft- und U-Boot-gestützten Nuklearwaffen war, so hoch interessant, nur außerhalb des klassischen Rahmens von Konsultationsgesprächen möglich. Die Gefechtsfeldwaffen von damals sind abgerüstet – und doch liegt das Thema heute wieder zu Recht auf dem Tisch.
Angesichts der Unsicherheiten um die amerikanische Politik hat der französische Präsident Emmanuel Macron angeregt, Gespräche über eine europäische Teilhabe mit Hilfe von Konsultationsmechanismen aufzunehmen. Und Berlin tut sich leider unverändert schwer mit dieser Frage, leider mit zum