Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa. Joachim Bitterlich

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Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa - Joachim Bitterlich

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ob der Bundeskanzler eventuell an einer Einladung interessiert sein könnte. Und der französische Präsident stellte dem Bundeskanzler direkt die gleiche Frage, die der Bundeskanzler in etwas wie folgt beantwortete, er sei sich der Bedeutung einer solchen Geste seitens des Präsidenten mehr als bewusst, frage sich aber, ob diese dem Präsidenten nicht Schwierigkeiten bereiten könne, zumindest noch gegenüber einzelnen Verbänden und Ländern. Aus der Sicht vieler seien die Wunden noch nicht vollständig verheilt.

      Und es sei angemerkt, die Normandie war mit Verdun nicht vergleichbar! Noch 1966 anlässlich der 50-Jahrfeier der Schlacht von Verdun, auf dem Höhepunkt der Freundschaft zwischen de Gaulle und Adenauer dachte de Gaulle nicht daran, Adenauer einzuladen. 1984 erst schien die Zeit für eine solche Einladung reifer. Genau wie man bis hin zu gemeinsamen Forschungsvorhaben nochmals 30 Jahre brauchte! Damit war das Thema aber nicht erledigt! Mitterrand antwortete dem Bundeskanzler, er danke ihm für seine offene Antwort, er wolle jenen Tag daher gerne mit einer besonderen Geste an das deutsche Volk verbinden – und so entstand die Idee eines großen deutsch-französischen Jugendtreffens zwei Tage später in Heidelberg!

      Interessant genug, dass der SPIEGEL-Redakteur mir dann bedeutete, dies alles stimme mit seinen Recherchen überein. Die „Story“ wurde dann aber in der Ausgabe des SPIEGELS nur am Rande erwähnt, sie passte halt nicht ganz in das Bild der Hamburger Redaktion. Noch erstaunter war ich, als der Redakteur mir dann die „Materialien“ seiner Recherchen überließ: Ich fand darin Papiere aus verschiedenen Häusern der Bundesregierung, die den Kern der Frage des Journalisten nicht beantworteten, aber auf einer bestimmten Perzeption – eine Einladung muss wohl erfolgt sein – aufbauten! Wir waren damals wohl zu diskret bei der Behandlung dieser Frage.

      Hinzufügen muss man, dass sich dieses deutsch-französische „Paar“ damals auf ein zweites Tandem innerhalb der Regierungen stützen konnte, das nicht weniger unterschiedlich war als die beiden Chefs selbst, auf die beiden Außenminister Roland Dumas und Hans-Dietrich Genscher. Beide waren keine „gewöhnlichen“ Kabinettsmitglieder, sondern hatten jeder auf seine Weise eine besondere Stellung und eine „eigene Agenda“. In den ersten Jahren habe ich in Paris, soweit irgend möglich, auch regelmäßig im Kabinett von Roland Dumas vorbeigeschaut und mit seinem Kabinettsdirektor, Bernard Kessedjan, den ich in Brüssel kennen und schätzen gelernt hatte, gesprochen. Nicht selten kam Roland Dumas für einen Café dazu.

      Ein anderes Beispiel ist der in Frankreich wohl kaum hinreichend bekannte 20. Juli 1944. Mitterrand war einmal zu den regelmäßigen offiziellen Konsultationen in Bonn und Helmut Kohl erzählte ihm, er habe eben einen Gast bei sich gehabt. „Vielleicht interessiert Sie dieser Gast. Er ist der letzte Überlebende des 20. Juli 1944, Ewald von Kleist. Würde es Sie interessieren, ihn zu treffen?“ – „Gerne!“

      Daraufhin wurde Ewald von Kleist gesucht, er war zuvor beim Bundeskanzler und verließ gerade das Kanzleramt – er wurde an der Wache vom Bundesgrenzschutz gestoppt. Er möge bitte sofort zurück zum Kanzler kommen. Ewald von Kleist hat dann zunächst im Beisein von Kohl, die Mitarbeiter gingen raus, in der Folge mit Mitterrand alleine gesprochen, der sich die Geschichte des Ewald von Kleist und des Widerstands des 20. Juli angehört hat.

      Mitterrand bekam seine, ihn faszinierende deutsche Geschichtsstunde. Bei dem Gespräch mit Kleist fasste sich nach einer Stunde der Leiter des Kanzlerbüros, Walter Neuer, ein Herz und fragte vorsichtig nach: „Herr Bundeskanzler, die Delegationen, auch der Premierminister werden unruhig. Die haben schon gemeint, es gibt eine Krise zwischen uns. Sie haben jetzt schon eine Stunde überzogen.“

      Kern um den Präsidenten und den Bundeskanzler waren die engen Mitarbeiter – eine französische Wochenzeitung bezeichnete uns in jenen Jahren als „Musketiere“ – das waren in den „Mitterrand“-Jahren zunächst Horst Teltschik bzw. Peter Hartmann und Jacques Attali, Jean-Louis Bianco und vor allem Hubert Védrine, die „Conseiller diplomatique“ Pierre Morel, Jean Musitelli, die „Europa-Berater“ Elisabeth Guigou und ihre Nachfolger Sophie-Caroline de Margerie bzw. Thierry Bert, später in der Zeit von Jacques Chirac waren dies Jean-David Levitte, Pierre Ménat und Jean-François Cirelli – auf unserer Seite natürlich Johannes Ludewig und sein Nachfolger Sieghart Nehring, aber auch Walter Neuer, der Leiter des Kanzlerbüros, gehörte genauso zu diesem engeren Kreis.

      Die „complicité“ unserer Chefs galt auch für uns. Wir waren angesichts unterschiedlicher Interessen oft unterschiedlicher Auffassung, verfolgten unterschiedliche Ansätze und Methoden, wir diskutierten aber Inhalte, wenn notwendig streitig und intensiv, bis wir Ansätze zu einem gemeinsamen Vorgehen sahen, die zugleich den Partner nicht überforderten. Wir „erduldeten“ manchmal die Spötteleien unserer Chefs über unsere gemeinsame Ausbildung, die ENA – wollten es dann aber den Chefs umso mehr zeigen, dass wir es konnten!

      Unvergesslich einer dieser Abende im Vorfeld von Maastricht im Elysée. Wir hatten den Chefs eine der gemeinsamen Initiativen vorgelegt. Und der Bundeskanzler schloss sich launisch dem lakonischen Kommentar des Staatspräsidenten an, dies sei ja alles schön und gut, der Text aber zu technokratisch und politisch viel zu lang. Der Hinweis des Kanzlers „ich lasse Euch den Bitterlich zur Überarbeitung da“ führte zu einer nächtlichen Neufassung. Ende der Arbeit morgens um 4 Uhr – der Elysée hatte ein Hotelbett gefunden und morgens früh ging es mit der ersten Maschine zurück nach Köln-Bonn, direkt mit dem – handgeschriebenen – kürzeren Text zum Bundeskanzler, der ihn sogleich auch billigte: „Warum nicht gleich so?“. Er hatte in der Sache recht, nur wütend – und k.o. – war ich trotzdem!

      Und so wussten damals Kanzleramt und Elysée, dass ich am Rande meiner Gespräche regelmäßig eine ältere Dame aufsuchte, zumindest für einen Café. Es war Georgette Rabinowitch, die beste Freundin meiner Schwiegermutter. Sie hatte ihren Mann, einen bekannten Pariser Anwalt durch Denunziation seitens seiner ersten Frau im KZ Auschwitz verloren und während des Krieges in Paris jüdische Kinder betreut, die eines Tages trotz aller Vorsicht von der Gestapo gestellt und verschleppt wurden, sie selbst aber mit Glück und Verstand davonkam. Die Gruppe, die die Kinder betreute, war denunziert worden und die Kinder traf das gleiche Schicksal wie ihren Mann!

      Und die Familie meiner künftigen Frau hatte sie bewusst zum ersten Besuch bei meinen Eltern mitgenommen. Ich war für sie der erste Deutsche, mit dem sie sprach, ja sie hatte Vertrauen in mich und wurde für mich zur „tante Georgette“ oder mütterlichen Freundin.

      Der 2019 verstorbene Jacques Chirac war ein ganz anderer Typus eines Politikers. Weitaus offener, spontaner, menschlicher, direkter, ja derber, volkstümlicher, populistischer als Mitterrand. Jacques Chirac war natürlich für Helmut Kohl kein Unbekannter. Die beiden kannten sich aus der europäischen Parteienbewegung und vor allem aus der ersten „Cohabitation“ in Paris von 1986 – 88 mit Jacques Chirac als Premierminister. In allen Bereichen war er immer ein überaus herzlicher, freundschaftlicher, aber nie bequemer Partner.

      Er stand Kohl politisch in mancherlei Hinsicht näher, doch er entpuppte sich als ein schwierigerer, zuweilen unberechenbaren Partner, vor allem in Bezug auf die europäische Integration, der er mit einer gewissen inneren Distanz gegenüberstand.

      Chirac hatte als Premierminister während der ersten Cohabitation sehen müssen, wie sehr das französische System ihn in die zweite Reihe setzt und vor allem dem Staatspräsidenten die notwendige Freiheit und Absicherung gibt. Er litt spür- und sichtbar darunter, hinzu kam für ihn, den ich oft als menschlich großartigen Politiker erleben durfte, ein gewisses Maß an Misstrauen und Neid. Sein Ehrgeiz war es daher, aus seinem Blickwinkel nur konsequent, Präsident der Republik zu werden und an der Spitze dieser „republikanischen Monarchie“ zu stehen.

      Apropos Parteienlandschaft und Cohabitation muss ich an eine Begebenheit denken, die uns damals Ärger mit den Freunden aus der RPR um Jacques Chirac einbrachte. Im Frühjahr 1989 hatte ich den Bundeskanzler zu einem der vielen bilateralen

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