Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa. Joachim Bitterlich
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Zielsetzung meiner „Erinnerungen“ ist weder eine Abrechnung noch ein Enthüllungsbuch, auch wenn manche Ereignisse durchaus emotional geprägte Erinnerungen wachrufen und vielleicht einige der Begebenheiten noch nicht oder noch nicht aus diesem Blickwinkel berichtet worden sind. Das Buch kann in keiner Weise die historische Aufarbeitung jener Zeit ersetzen, einschließlich die Arbeit anhand der Erinnerungen Helmut Kohls selbst wie anderer Akteure, der zugänglichen Quellen und deren Interpretation.
Es versteht sich von selbst, dass sich diese „Erinnerungen“ auch zwangsläufig mit dem „Pamphlet“ Heribert Schwans kritisch auseinandersetzen müssen.
Mir geht es darum, auf der Grundlage meines Weges die Politik Deutschlands ab Mitte der 70er Jahre, dann vor allem in der zweiten Hälfte der 80er und in den 90er Jahre, die zunächst durch Hans-Dietrich Genscher, dann grundlegend durch Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl geprägt worden ist, nachzuzeichnen und verständlich zu machen, sie in ihren innen-, vor allem europapolitischen und internationalen Kontext und im Lichte der Folgezeit aufzuzeigen und aus der Rückschau Gedanken für die Zukunft daraus abzuleiten. Naturgemäß muss sich eine solche Zeitreise durch vier Jahrzehnte deutscher Politik auch mit den handelnden Persönlichkeiten auseinandersetzen.
Der aufmerksame Beobachter der heutigen europäischen Krisen und Konflikte muss feststellen, dass viele der jetzigen Umstände in der damaligen Zeit entstanden sind und zu lange unterbewertet oder vielleicht schlichtweg noch nicht verstanden bzw. in der Folge einfach falsch beurteilt worden sind. Unter der durch die Anhäufung der Krisen und deren kurzfristig-pragmatisch bestimmten Reaktionen entstandenen Bugwelle leidet Europe heute mehr denn je.1
Vor allem scheint Europa unverändert in einer Übergangszeit zu stecken, die ihren Ursprung in jenen grundlegenden Veränderungen der Jahre 1989/90 hatte und deren Konsequenzen von mancher Seite bis heute nicht voll verarbeitet bzw. „verdaut“ sind: Unverändert suchen Schlüsselländer des europäischen Geschehens – Frankreich, das Vereinigte Königreich, Russland, aber auch und gerade Deutschland selbst – ihren Platz und ihre Rolle in und um Europa.
Und gerade in diesem Sinne müssen diese „Erinnerungen“ nach dem Tode Helmut Kohls am 16. Juni 2017 eine Würdigung seines Werkes und seiner Ära enthalten. Er hat seine Ziele zu Lebzeiten auf das richtige Gleis gesetzt, seine Nachfolger haben Fortschritte erreicht, aber auch Rückschläge verzeichnen müssen. Ich habe mich daher im Rückblick auf die krisenhaften Zuspitzungen und damit auch Krisen der europäischen Integration gefragt, was geschehen muss, um sein Vermächtnis mit Leben zu erfüllen und es in die Tat umzusetzen. Es ist aktueller denn je!
Trotz aller notwendigen kritischen Bewertung ist Europa heute, über 20 Jahre nach Kohls Abtreten von der politischen Bühne, mehr denn je gefordert, gerade auch im Lichte der COVID-Krise in seinem Sinne zu festigen und seine Überlebensfähigkeit auf Dauer zu sichern.
1 Siehe hierzu mein Essay unter dem Titel „Reflections on ‹“The End of Cold War?›» in: Exiting the Cold War, Entering a New World, herausgegeben von Dan Hamilton und Kristina Spohr, Washington 2019, Seite 483 ff
Dank
Ein solcher Rück- und zugleich Ausblick ist auch Anlass des Dankes an die, die mich während dieser Jahre gefördert und ertragen haben. Zuallererst an meine Frau und unsere Kinder, die ich oft genug vernachlässigt habe, sie haben mir immer die Rückendeckung für die Wahrnehmung meiner Aufgaben gegeben. Ihnen ist dieses Buch daher auch gewidmet.
Danken möchte ich zudem stellvertretend für alle meine Vorgesetzten Bundeskanzler a.D. Dr. Helmut Kohl und auch Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, die mich gefördert, die meine Fehler ertragen, sie abgedeckt haben, mit denen ich phantastische Stunden erleben durfte.
Dankbar bin ich gleichermaßen den Kollegen und Mitarbeitern, die im Kanzleramt wie in den von mir geleiteten Vertretungen in Brüssel und Madrid Höchstleistung erbracht haben und ohne die ich meine Aufgaben nie hätte erfüllen können.
Dankbarkeit aber auch dafür, was ich in all denen Jahren miterleben, dass ich in Schlüsseljahren deutscher und europäischer Geschichte dabei sein und zu den Weichenstellungen mitunter beitragen durfte. Dankbarkeit gleichermaßen an die Adresse vieler gewonnener Freunde, mit denen ich damals wie heute verbunden bin, stellvertretend für viele andere sei Hubert Védrine genannt.
I. Kapitel
Vom Auswärtigen Dienst in die Politik
1. Untypischer Anfang im Auswärtigen Dienst, 1976–78
Das „Abenteuer“ europäische und internationale Politik hatte unspektakulär begonnen. Ich war 1976 stolz darauf, den Auswahlwettbewerb des Auswärtigen Dienstes – dem einzigen dieser Art in Deutschland – bestanden zu haben und in den „höheren Auswärtigen Dienst“ einzutreten.
Wieso überhaupt Auswärtiges Amt? Die Vorstellung, meine Heimat, das Saarland zu verlassen, war schon während des zweijährigen Militärdienstes entstanden, der mich quer durch Deutschland geführt hatte. Die Vorzeichen waren freilich eher deutsch-französisch, ja europäisch – geboren im Saarland, damals noch unter französischer Besatzung, Gymnasium, dann Studium Recht, Wirtschaft und Politik in Saarbrücken.
Ich erinnere mich an Grenzen und deren Probleme, an die Zeit gescheiterter Bemühungen, aus dem Saarland ein europäisches „Washington DC“ zu machen, an die Volksabstimmung im Herbst 1955 und ihre positiven wie kritischen Folgen. Die Saarländer lehnten mit Zwei-Drittel Mehrheit das von Frankreich und der saarländischen Landesregierung initiierte „Europäische Statut für das Saarland“ ab. Damit war der Weg für die Rückgliederung des Saarlandes in die Bundesrepublik frei. Meine Eltern trauten sich unter jenen Umständen nicht, mich in Saarbrücken beim französischen Maréchal Ney-Gymnasium anzumelden, dessen französisches Abitur im Saarland dann auch prompt fürs erste nicht (mehr) anerkannt wurde.
Die Grenzkontrollen Richtung Deutschland verschwanden, diejenigen in Richtung Frankreich blieben, auch und gerade gegenüber dem Nachbarn Lothringen. In jenen Jahren mussten wir schmerzhaft erfahren, was es bedeutet, eine Wohnung im „Zollgrenzbezirk“ zu haben. Wir konnten nicht so einfach jenseits der Grenze einkaufen und erfreuten uns „aleatorischer“ Kontrollen auf dem regelmäßigen Weg nach Lothringen. Meine Frau stammte eben aus dieser Region, ausgerechnet aus einer Gemeinde, die 1871 geteilt worden war und daher bis heute unterschiedlichen Verwaltungsregeln und -grenzen unterliegt, ein Teil im Departement „Moselle“, ein Teil in „Meurthe-et-Moselle“. Grenze war die Eisenbahnbrücke, der Ort zugleich Grenzstation für alle Züge zwischen Paris und Straßburg. Ein Grenzbahnhof, der im Übrigen durch einen der großen Filme von Claude Lelouch „Les uns et les autres“ bekannt wurde.
Meine Schwiegermutter ging in die deutschsprachige Grundschule. Auf der Straße Französisch zu sprechen war ein Tabu, sie brauchte einen Passierschein, um ihre Verwandten auf der anderen Seite der Brücke zu besuchen. Nach dem Ende der deutschen Besatzung war die deutsche Sprache Tabu, man hielt aber bis heute die besonderen Besitzstände auf der Seite „Moselle“ aufrecht – Beispiel war der Status der Kirche. Die Priester werden unverändert vom Staat bezahlt!
Während der juristischen Referendarausbildung sollte die Unterbrechung über 13 Monate zum Studium an der ENA, der Ecole Nationale d'Administration in Paris, folgen, ein „Ausflug“ in eine andere Welt, das „Eintauchen“ in eine völlig andere Art von Führung und Administration. Mein Ausbilder aus dem Innenministerium hatte mich auf den deutschen Auswahlwettbewerb aufmerksam gemacht und im Einvernehmen mit meiner Frau hatte ich das Risiko gewagt.
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