Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa. Joachim Bitterlich

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Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa - Joachim Bitterlich

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Weg beeinflussen sollten, einerseits mit Werner Rouget als meinem Referatsleiter, dessen Erinnerungen ich 1997 nach seinem viel zu frühen Tod gemeinsam mit dem Frankreich-Kenner Ernst Weisenfeld herausgegeben habe1, und andererseits mit Hanns-Werner Lautenschlager, dem späteren langjährigen Staatssekretär des Auswärtigen Amtes; damals war er „noch“ mein Abteilungsleiter.

      Ähnlich spannend waren einige Monate an der Botschaft in Madrid. Vertiefung der spanischen Sprachkenntnisse war die Zielsetzung, doch weitaus interessanter war es, erstmals – und das ohne Verantwortung – eine Botschaft in der Praxis kennen zu lernen und vor allem Spanien auf seinen ersten Schritten Richtung Demokratie nach dem Tode Francos näher zu beobachten.

      Dank des von der Botschaft engagierten Sprachlehrers hatten wir die Chance, den ersten Persönlichkeiten dieser jungen Demokratie, auf der rechten wie auf der linken Seite, zu begegnen oder zum Schrecken der Botschaft dank spanischer Studenten aus dem Umkreis der Sozialisten die erste große Demonstration der spanischen KP aus unmittelbarer Nähe mitzuerleben. Die spanische Kommunistische Partei wollte damals den Regierenden zeigen, dass sie unverändert in der Lage ist, Massen zu mobilisieren. Es waren 500.000 Menschen an der Plaza Colon in Madrid und über dem Platz kreiste lange Zeit ein Militär-Hubschrauber. Erst längere Zeit danach wurde bekannt, dass der spanische König die Machtdemonstration der KP „von oben“ beobachtete. Der Botschafter selbst schien entsetzt über eine solche „Naivität“ der Jung-Diplomaten, wir konnten so aber die Stimmung und Herausbildung einer jungen und zugleich wehrhaften Demokratie miterleben.

      Es war für mich als jungen Attaché zugleich faszinierend, mit einem Mann der konservativen Rechten, Manuel Fraga Iribarne, über seinen Verfassungsentwurf diskutieren zu dürfen, der (sehr) der Verfassung der V. Republik in Frankreich nachgebildet schien, oder eben mit jungen Sozialisten um Felipe Gonzalez an langen Abenden über den Weg Deutschlands nach dem Kriege und den der deutschen Sozialdemokratie zu disputieren. Ich verstand nicht, wie die deutsche Politik – mit Ausnahme von Willy Brandt – gerade dieses Talent einschätzte. Dieses Land sollte mich auch in der Folge nie mehr loslassen.

      Meine Neugierde für die arabische Sprache hatte mir zudem nach einem einjährigen abendlichen „Schnupperkurs“ an der Universität in Bonn einige Monate Intensivkurs an der Botschaft Kairo beschert, den Einblick in eine andere Welt, in ein anderes Denken, in eine andere Kultur. An sich sollte es damals für einige Monate in den Libanon gehen in eine der anerkanntesten Sprachschulen in Shemlan – der aufkommende Bürgerkrieg hatte die Schule aber gezwungen, nach Kairo auszuweichen.

       „Total immersion“ nennt man in der Fachsprache einen solchen Kurs – täglich 6 Stunden Sprachunterricht, daneben eine nur sehr lockere Anbindung an die Botschaft, dafür in größerer Intensität der Einblick in das Leben dieser Millionenstadt, im Grunde kulturell weniger arabisch, denn ägyptisch geprägt. Daraus wurde zugleich ein echter, ungeschminkter Einblick in das politische und gesellschaftliche Leben Kairos, einschließlich der religiösen Grundfragen, eine Möglichkeit, die wir als Mitarbeiter der Botschaft nicht in der gleichen Weise erhalten hätten.

      Es waren faszinierende Monate in einem sich langsam öffnendem Lande, ein erster Einblick in eine gänzlich andere Welt – ungemein lehrreiche Monate, von denen ich bis in die jüngste Zeit profitieren sollte.

      Es war zugleich die Neugierde für diesen geopolitisch und nachbarschaftlich für Europa so wichtigen Raum, die vielleicht mitursächlich für die erste längerfristige Verwendung wurde: Algier, die erste klassische, nicht minder lehrreiche Auslandsverwendung mit dem schwierigen Lernposten Algier als Leiter des Rechts- und Konsular- sowie des Kulturreferats – eine überraschende Postenkombination, die mich zunächst einmal nachdenklich machen musste.

      August 1978, Ankunft in Algier, eine Hauptstadt im Leerlauf, ja fast in Agonie, Zeit des Ramadan, nicht nur! Ein Land in der Erwartung des Todes seines langjährigen Präsidenten Houari Boumédiène – und parallel wurde anscheinend ohne Ende zwischen den Spitzen der Armee und der Einheitspartei FLN über die Nachfolge verhandelt …

      Dass das junge Land 15 Jahre nach Erlangung seiner Unabhängigkeit und einem erbitterten Krieg mit seinem Mutterland Frankreich noch nicht im Reinen sein konnte, konnte nicht erstaunen – dass dies heute, über 50 Jahre nach der Unabhängigkeit immer noch nicht der Fall ist, muss indes verwundern.

      Dass das Land – oder besser gesagt, die Führer von Armee und der legendären Staatspartei FLN – sich 1978 schwertaten, einen Nachfolger für den langjährigen Präsidenten zu küren, schien noch verständlich. Aber dass das Land 35 Jahre später den kranken Staatspräsidenten Abdelaziz Bouteflika – der schon zu meiner Zeit zur Führung gehörte – sanft überreden musste, mangels Einigung über einen Nachfolger wie auch wohl, so bedeuteten mir Insider, mangels Verständigung über die Sicherheitskautelen für seine Familie weiter im Amt zu bleiben, musste zu ernsten Bedenken führen!

      Auch nach dem Tode Bouteflikas und der Wahl eines neuen Präsidenten bleibt das Land in einer labilen Lage. Es gelingt der Führung nicht, die Demonstrationen und Rufe nach mehr Demokratie und Gerechtigkeit zu befriedigen. Die Armee als wesentliches herrschendes Führungselement scheut sich vor überfälligen Reformen und Schritten zu mehr Demokratie. Dies in einem Land, das von den Naturschätzen zu den reichsten Ländern der Welt gehört, das aber systembedingt nur schwer vom Fleck kommt.

      Liegt dies an dem Trauma der durch den Kampf gegen den extremen Islamismus verlorenen 90er Jahre oder eben an jenem „historischen“ Kompromiss zwischen Armee und politischer Führung, verkörpert durch die FLN, die sich in Wahrheit überlebt haben scheint, und auf der anderen Seite „gemäßigten“ Islamisten, die ihren Einfluss mehr und mehr ausbreiten? Kritiker werfen dem „Regime“ vor, zum Schaden des Landes die Gesellschaft – vor allem mit der schleichenden Übernahme des Bildungsbereichs – letztlich den Islamisten zu überlassen. Oder spielt nicht doch noch in den Hinterköpfen vieler in Algerien das nach wie vor durch latente Spannungen und Missverständnisse beherrschte Verhältnis zum kolonialen Mutterland Frankreich eine besondere Rolle? Die Ereignisse des Jahres 2019 und die spürbare Angst vor einem demokratischen Wandel haben dies nachdrücklich unterstrichen.

      Algier wurde ab August 1978 für mich nicht nur zum idealen Ort gründlicher, unkonventioneller Ausbildung in allen wesentlichen Bereichen der Diplomatie, sondern auch zum Ort der ersten nahen Begegnung mit der deutschen Politik, mit meinem Dienstherrn Außenminister Hans-Dietrich Genscher.

      Ich hatte zwei Botschaften im Schnupperkurs erlebt – Kairo und Madrid. Mein Vorgänger war schon nach Bonn zurückversetzt, mein Vertreter – der Pressereferent – stellte mir kurz die Mannschaft vor, verwies auf die wesentlichen Arbeitsbereiche und wünschte mir viel Glück bei der Einarbeitung. Auf „meinen“ ersten Botschafter hatte ich mich etwas vorbereitet. Es war Michael Jovy, bekannt durch den Widerstand gegen das NS-Regime, ein unkonventioneller, recht lockerer Botschafter, der mir alle Freiheit lassen sollte, in Notfällen sei er da.

      In Algier lernte ich die kleinen und großen täglichen Probleme des Konsularalltags in einem gewiss nicht leichten Umfeld kennen. Da standen täglich bis zu 200 Algerier vor der Tür des Konsulates bei Sonne oder Regen, die um ein Visum nach Deutschland anstanden.

      Die Technik war damals lange nicht so weit wie heute und wir Konsuln aus dem heutigen Schengen-Bereich überlegten uns offen, wie wir uns gegenseitig helfen könnten – z.B. um zu vermeiden,

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