Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa. Joachim Bitterlich

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Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa - Joachim Bitterlich

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für den Auswärtigen Dienst zu sein.

      Die jungen Attachés hofften vergeblich auf eine Begegnung mit „ihrem“ Bundesminister. Mir sollte dies zweieinhalb Jahre später dank einer Beerdigung vergönnt sein. Unsere Vereidigung nahm der Staatssekretär vor. Wir erfuhren erst später, dass Peter Hermes, den ich in der praktischen Ausbildung kennen und schätzen lernte, aus der inneren Sicht des AA nicht der erste, sondern „der zweite“ Staatssekretär war.

      Die ersten einführenden Monate in der Ausbildungsstätte des Auswärtigen Amtes auf der Bonner Höhe in Ippendorf, der „Diplomatenschule“, vergingen viel zu langsam, ich wollte endlich die Praxis kennen lernen! Daran änderten auch weder das Bemühen um die Vermittlung des diplomatischen Rüstzeugs noch die ersten Einblicke irgendetwas. Einer der wenigen Politiker, die mich in den abendlichen Diskussionen in ihren Bann gezogen und beeindruckt hatten, war Egon Bahr. Er, der Vordenker und Wegbereiter der Brandt'schen Ostpolitik, war es, der schon früh den Grundsatz „Wandel durch Annäherung“ geprägt und die Brücken nach Osten aufgebaut hatte. Seinen Kernsatz, wonach Schlüssel zur Lösung der deutschen Frage ein europäisches Sicherheitssystem sein müsse, „das Sicherheit für Deutschland mit Sicherheit vor Deutschland verband, auf der Grundlage einer stabilen Abschreckung durch die beiden Supermächte“, konnte ich aus damaliger Sicht im Grundsatz nur querschreiben. Was bei Bahr freilich vor allem fehlte, war die Einbettung in die europäische Integration als die „andere Seite der Medaille“ – und das unterschied ihn, der in gewisser Weise eines der Vorbilder wurde, von Helmut Kohl, meinem späteren Lehrmeister. Einer der wenigen, der die politische Bedeutung des Bahr'schen Kurses erkannt hatte, war in jenen Jahren ein anderer Lehrmeister moderner Außenpolitik: Henry Kissinger.

      An meiner Ungeduld änderte auch die Enttäuschung über das erste „Personalgespräch“ im Dienst nichts. Mein erster Vorgesetzter an der Diplomatenschule verkündete mir offen, dass ich angesichts der Tatsache, dass meine Frau Französin ist und ich durch die ENA, die französische Kaderschmiede, gegangen war, nie nach Paris versetzt werden würde. Mir fehle es an der notwendigen Objektivität, am erforderlichen Abstand von den Franzosen. Ich musste schon schlucken, ich hatte ihn nie nach einer Versetzung gefragt! Ich durfte vertretungsweise den Französisch-Unterricht für junge Diplomaten leiten, aber Paris sollte Tabu bleiben. Doch ich konnte nicht ahnen, dass es manchmal anders kommt, als Planer und Personalmanager es vorhersehen.

      Die folgenden Jahre waren dennoch faszinierende Lehrjahre. Zum Teil sind die Themen der damaligen Zeit auch heute noch aktuell; anders ausgedrückt: Sie harren auch heute noch einer nachhaltigen Lösung.

      Im Frühjahr 1977 begann endlich die Praxis mit der Ausbildung in der Abteilung für Außenwirtschaft des Auswärtigen Amtes, im damaligen Referat 413 für Fragen der „Nuklearexport-Politik“. Dies in einer Zeit, die geprägt war durch die Bemühungen der US-Administration um Präsident Carter um eine Verschärfung der Nuklearexportkontrollen, eines der politisch sensiblen Themenkomplexe der Außenpolitik.

      Damals war die Bundesrepublik Deutschland unter Bundeskanzler Helmut Schmidt unter amerikanischem Beschuss, hatte sie doch die Lieferung von Kernkraftwerken und umfassenden Systemen in Länder auf das Gleis gesetzt, die den Kernwaffensperrvertrag zwar unterzeichnet hatten, aber dennoch zugleich lange Jahre verdeckt oder offen auch nukleare militärische Ambitionen hegten oder, vorsichtig gesagt, zu hegen schienen. Länder wie Brasilien, Argentinien und Iran – und viele andere – standen Schlange, um Kernkraftwerke „Made in Germany“ zu kaufen.

      Sie wollten letztlich den gesamten nuklearen Kreislauf beherrschen, von der Urananreicherung über die zivile Nutzung der Kernenergie bis hin zur Wiederaufarbeitung. Und gerade in der Anreicherung wie Wiederaufarbeitung liegen die möglichen Weichenstellungen, Kernwaffen zu entwickeln.

      Die Bundesregierung war ernsthaft bemüht, durch Mitarbeit und Anwendung von international erarbeiteten Kontrollmechanismen, den sog. „Nuclear supplier guidelines“, solche Möglichkeiten zu reduzieren, wenn nicht auszuschließen. Und schon damals war ich bestürzt über manche Naivität in dieser hoch sensiblen Materie, nicht zuletzt seitens der Wirtschaft. Der Problemfall war 1977 nicht der Iran, sondern vielmehr Libyen. Allen Ernstes meinte damals eine namhafte deutsche Firma, die Bundesregierung werde ihr den Export ausgerechnet in dieses Land genehmigen!

      Apropos Iran – erst über die Jahre habe ich erfahren müssen, dass dessen Wirtschaft und Industrie in sensiblen Bereichen, einschließlich der Nuklearwirtschaft, unter dem Schah nicht nur von Deutschland, sondern vor allem von den Amerikanern und Franzosen, aber auch von den Israelis gefördert worden war. Und „unter dem Tisch“ wussten die Beteiligten schon damals, dass es dem Schah auch um das Potential von Kernwaffen ging! Sie förderten auch insoweit den Iran, ob bewusst oder unbewusst, will ich dahingestellt sein lassen. Und es ist daher wenig verwunderlich, dass gerade die Beziehungen insbesondere zu Israel und den USA mit dem Iran nach 1979 nicht abrupt abrissen und die „Wirtschaft“ mit Duldung seitens der Politik immer wieder Wege für die Umgehung von Embargo-Bestimmungen fand.

      Unter dem Titel „Der Feind meines Feindes – Geschichte einer seltsamen Freundschaft“ hat vor einiger Zeit ein deutscher Wissenschaftler anschaulich auf Grundlage öffentlich zugänglicher Quellen dieses komplexe, geschichtlich belastete Verhältnis beschrieben. Ich ahnte nicht, dass die Entwicklung dieser Region und dieses Land mich in Zukunft immer wieder beschäftigen sollte. Heute scheint mir, dass es uns in Deutschland wie in Europa an strategischem Denken und Zugang gegenüber diesem Land wie der Region insgesamt fehlt.

      Nuklearpolitik war naturgemäß zugleich auch Innenpolitik. Und in den 70er Jahren begann sich in Deutschland das Ende der Verwendung, zumindest zusätzlicher Nutzung der Kernenergie abzuzeichnen. Es gab in Deutschland in der Bevölkerung im Gegensatz zum Nachbarn Frankreich keine Mehrheit für die Nutzung der Kernenergie. Damals scheiterte im badischen Whyl der letzte geplante Neubau eines Kernkraftwerkes aufgrund anhaltender Demonstrationen.

      Man darf nicht vergessen, woher die Demonstranten damals „gefüttert“ und unterstützt wurden: aus dem gegenüberliegenden Elsass, wo es gegen die einzige dortige Kernkraftanlage in Fessenheim und angesichts ihrer regelmäßigen Störanfälligkeit oft genug Proteste gegeben hatte, die aber von der französischen „Obrigkeit“ im Keime erstickt wurden. Auf deutscher Seite war halt vieles leichter.

      Ich hatte zwei Jahre zuvor bei meinem ENA-Praktikum an der Regionalpräfektur in Metz die geräuschlose Ingangsetzung der Verfahren zum Bau des Kernkraftwerks Cattenom in Lothringen an der Mosel miterlebt: durch „Aushang“ an den zuständigen örtlichen Stellen. Die Nachbarn Luxemburg und Saarland – das Kraftwerk ist 10 bzw. 20 km von der Grenze entfernt! – wurden sorgfältig ferngehalten und erst nach Jahren immer wieder vorgetragener Proteste immerhin in die Notfallplanung miteinbezogen.

      In gewisser Weise sind Fessenheim und Cattenom bis heute Stein des Anstoßes in Deutschland, vor allem in den Grenzregionen. Zusammen mit Tschernobyl und Fukushima haben sie dazu beigetragen, dass die Nuklear-Skepsis in Deutschland zugenommen hat und Frankreich und Deutschland in der Energiepolitik auseinandergedriftet sind.

      Ahnen konnte ich damals nicht, dass mich Jahre später als Aufsichtsrat eines deutschen bekannten Energieversorgers – EnBW, Energie Baden-Württemberg – Kernenergie wieder beschäftigen würde und zudem eine alte Bekannte aus dem Elysée in Paris mich dazu einladen wollte, wieder in die Nuklear-Politik einzusteigen. Sie bot mir die Leitung dessen an, was in Deutschland von der Kraftwerk Union, der KWU geblieben war, der ich einst als Praktikant verbunden war. Ich habe, Gott sei Dank, noch rechtzeitig die Falle bemerkt und abgewunken! Sie suchte in Wahrheit, und zwar unter Umgehung und wohl gegen den Willen des deutschen Mitaktionärs Siemens einen deutschen „Abwickler“ oder „Sündenbock“ für das Scheitern

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