Vom letzten Tag ein Stück. Ute Bales

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Vom letzten Tag ein Stück - Ute Bales

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in der Zeit, als wir Mädchen mit Poesiealben über den Schulhof zogen und die Jungs baten, sich mit einem Spruch oder einem Gedicht zu verewigen, zeigte Bertram sich derlei Ritualen überlegen. Fast alle malten und klebten Glanzbilder in die Bücher, verschnörkelten die Anfangsbuchstaben der Verse, knickten Ecken ein, die man aufklappen musste, um Herzchen mit bedeutungsvollen Initialen zu finden.

      Bertram verpönte, was wir taten. Natürlich bat ich ihn, sich in mein Album einzutragen, hielt ihm sogar den besten Platz frei, nämlich ganz hinten, wo normalerweise stand: Ich hab mich hinten angewurzelt, dass niemand aus dem Album purzelt. Aber Bertram verweigerte, fasste das Buch nicht einmal an.

      Dann aber kam er doch, hielt mir einen zusammengefalteten Zettel entgegen, meinte, wenn ich Lust hätte, könnte ich ihn in mein Album kleben.

      Anstatt den Zettel einzukleben, legte ich ihn in ein Schulbuch, wo er irgendwann herausfiel. Meine Mutter fand ihn beim Staubsaugen, hob ihn auf und las. Mit fragendem Blick stand sie vor mir: »Kann das weg?« Ich war einverstanden, sah ungerührt zu, wie meine Mutter den Zettel zerknüllte und den Treteimer bediente, denn ich fand Bertrams Spruch unpassend, wollte ihn nicht zu den anderen kleben, die ich schöner fand. Auf dem Zettel stand: Ich schreibe, was ich zu schreiben habe und nicht, was ich schreiben soll.

      9.

      Bertram blieb wichtig, auch als ich älter wurde.

      Ich weiß nicht, wie oft ich den Weg zu seinem Haus gegangen bin. Im Sommer täglich. Manchmal blieb ich nur kurz, um zu sehen, was er so trieb. Um ein bisschen zu reden. Belanglos schwätzend sehe ich uns noch auf der Gartenmauer sitzen.

      Er fragte nie, wann ich wiederkäme, warum ich gestern keine Zeit hatte, warum ich so spät oder so früh käme, warum mein Telefon so lange besetzt war. Erklärungen wollte er nicht hören. Er mochte nicht, wenn ich mich nach ihm richtete, auf ihn wartete, ihm Verabredungen abverlangte, mich in seine Gedanken schob. Aber er mochte meinen, wie er sagte, altmodischen Ausdruck im Gesicht und er mochte auch, wenn ich da war.

      Mir und Bertram fehlten Sätze. Sätze, die wir nie aussprachen. Sätze über uns. Nur ein paar Silben flackerten, Kommas und Punkte schwebten. Dafür kreisten Fragezeichen, und wir hatten eine ganze Menge Was-meinst-du-Sätze und was das anging, so war ich durchaus gefragt.

      Was meinst du zu dem und dem Buch? Zu dem und dem Bericht? Zu der Politik von Kohl? Zum Ayatollah? Zu den Kommunisten? Zu den Nazis? Zu den Terroristen? Zu den Naturkatastrophen? Zum Fischsterben? Zur Ölkrise? Zu Bowies ›Heroes‹ oder zu dem und dem Stück von Pink Floyd?

      Wenn alles so weitergegangen wäre, hätte aus uns vielleicht etwas werden können. Aber nur vielleicht. Denn die vorsichtigen Zeichen, die ich ihm gab, ignorierte er, brachte sie in eine andere Form, in andere Zusammenhänge.

      Heute Abend?

      Ja, wenn du magst, aber lass dir Zeit.

      Fahren wir ins Kino?

      Ach nein, es kommt nichts, was mich interessiert. Geh besser allein.

      Hast du Zeit?

      Wenn du kommst, nehm ich mir die Zeit.

      Um acht bei den Fichten?

      Ja, gut. Aber warte nicht auf mich.

      Überhaupt kam Bertram ständig zu spät. Besuchte er mich, blieb er meist bis in die Puppen. Er blieb, auch wenn ich todmüde war und seinen Worten kaum noch folgen konnte.

      Immer hatte ich das Gefühl, dass er für mich da ist, nur für mich, dass ich also, sozusagen, eine Art Anspruch auf ihn hätte.

      Er las Schopenhauer und Nietzsche, die Schriften Michel Foucaults, befasste sich mit Konstruktivismus, erklärte mir das Mandelbrot-Fraktal, die Euler’sche Identität, die binomischen Formeln und den Goldenen Schnitt. Er bespielte mir Kassetten mit Sachen von Etta James und Ella Fitzgerald. Cry me a river.

      Auf dem Schulkopierer kopierte er für mich Gedichte von Brecht und Songtexte von Billie Holiday, die er mir dann in Bücher steckte, die ich gerade las.

      Neben alldem brachte er es fertig, meine verborgenen Schichten aufzugraben, indem er Ideen in mir anfachte und meine Gedanken fliegen ließ.

      Bertram war einer der wenigen, für den ich nichts zum Schein tat, nichts, um besser dazustehen, nichts, was nicht mir selbst entsprochen hätte. Bertram ließ mich ich sein. Einen Orden müsste man ihm verleihen, allein dafür.

      Er war es, der mir die Welt deutete, für mich mit Sternen jonglierte. Ich wollte Bertram so viele gute Sachen sagen. Schöne Sachen. Dafür bleibt uns viel, viel Zeit, hatte er einmal gesagt. Vielleicht das ganze Leben.

      Fast jeder war in Bertrams Haus jederzeit willkommen. Bertram konnte man aus dem Schlaf reißen, wenn es sein musste. Man konnte ihn um Hilfe fragen, wenn man einen Umzug vor sich hatte oder einen Dübel in die Wand geschraubt haben wollte. Bertram half. Man konnte ihn auch um Asyl bitten. Sogar für mehrere Wochen. Für Bertram kein Problem.

      Ich erinnere mich, dass es in der letzten, mit ihm durchdiskutierten Nacht war. Wir saßen in seiner Küche, er hatte den Ofen gefeuert. Es ging um den Faust und um Geomantie und wie alles zusammenhinge. Er stellte zwei Stubbiflaschen5 auf den Tisch, die er mit einem Feuerzeug öffnete. Dabei gestand er, dass es ihm ginge wie Dr. Faustus, dass er nichts wisse und auch nichts wissen könne, dass dies allerdings der beste Zustand des Menschen sei, weil er bescheiden mache. Nichts gäbe es, was man endgültig wissen könne.

      Dennoch hatte er eine eigene Vorstellung davon, was die Welt zusammenhielt. Nie wollte er so werden wie unsere Politiker, die von einem Ministeramt ins andere wechselten, korrupt seien, von nichts eine Ahnung hätten und nur laberten.

      Als die Stubbis leer waren, kochte er Tee von getrockneter Pfefferminze, während er es einen Verfall der Welt nannte, dass Menschen sich anmaßen würden, alles zu besitzen, über alles zu verfügen, über Meer und Luft, über Tiere und Pflanzen, selbst über unsere Berge.

      10.

      So, wie alles gekommen ist, ist es schleichend gekommen und so leise, dass kaum jemand Notiz davon nahm. Viele sind fortgegangen aus unserem Dorf, auch ich.

      Bertram fand es gut, dass ich ging. Kann nichts schaden, sagte er damals und meinte, dass ich dann einen neuen Blickwinkel auf alles bekäme und aus der Distanz die Dinge anders bewerten würde. »Geh und lass dich nicht halten. Der Himmel ist hoch.«

      Für sich selbst wollte er keinen neuen Blickwinkel und auch keine Distanz. Er ginge nirgends hin. Bertram blieb aus Überzeugung.

      Bis zu dem Tag, an dem er plötzlich verschwand.

      Von einem Tag auf den anderen wurde er nicht mehr gesehen.

      Nicht in seinem Haus, nicht im Dorf, nicht am Berg.

      Als ich von Bertrams Verschwinden hörte, lebte ich seit Jahren nicht mehr in meinem Dorf. Ich hatte mich gewundert, weshalb von ihm keine Briefe mehr kamen, sorgte mich, versuchte ihn anzurufen, was sich schnell als sinnlos herausstellte. Vielleicht hatte er seinen VW-Bus bepackt und war nach Indien aufgebrochen. Mir kam in den Sinn, dass er einmal, es war nicht lange her, unvermittelt und ohne offensichtlichen Grund mitten auf der Straße jäh hingeschlagen war und einige Momente wie betäubt dalag. Er war weiß im Gesicht, die Lippen grau und er bekam keine Luft mehr, konnte überhaupt nicht mehr atmen und ich war starr gewesen vor Schreck,

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