Challenge Ironman. Frank-Martin Belz
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MENSCHEN
Wie wir in Zeiten von Corona sehen, würde der Mythos vom Ironman in Vergessenheit geraten und die Marke wäre keinen Cent wert, wenn es nicht Millionen von Menschen gäbe, die dem Triathlon Bedeutung beimessen und sich für einen Wettbewerb anmeldeten. Trotz hoher Anmeldegebühren sind die Startplätze für Rennen wie dem Ironman Frankfurt oder der Challenge Roth häufig nach wenigen Stunden bereits ausgebucht. Wie lässt sich das erklären? Warum melden sich jedes Jahr weltweit über hunderttausend Menschen für eine Langdistanz an? Warum nehmen sie die Mühe und Entbehrungen einer jahrelangen Vorbereitung auf sich? Was verbinden diese Sportler mit dem Training und dem Ironman? Das sind die Fragen, mit denen ich mich in dem vorliegenden Buch näher beschäftige. Es geht um den tieferen Sinn und die unterschiedlichen Bedeutungen, die einzelne Athleten dem Ironman beimessen.
Als Professor, der mit qualitativen Methoden der empirischen Sozialforschung vertraut ist und seit Jahren an der Universität unterrichtet, fing ich 2019 damit an, systematisch nach dem Sinn eines Ironman zu suchen. Dabei hat mich das Buch „Counterplay“ von Robert Desjarlais inspiriert, einem passionierten Schachspieler und Professor für Anthropologie am „Sarah Lawrence College“ in New York.12 In seiner brillanten Studie vermischt er persönliche Erfahrungen mit Beobachtungen und Interviews von Teilnehmern, um in die Welt des Schachs einzutauchen und aufzuzeigen, welche Bedeutung das königliche Spiel jeweils für die unterschiedlichen Turnierspieler hat. Dabei verfolgt er einen qualitativen Forschungsansatz, der Ethnographie genannt wird. Éthnos stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet soviel wie „fremdes Volk“, während graphé für „Schrift“ steht. Demzufolge lässt sich „Ethnographie“ übersetzen mit „Völkerbeschreibung“. Ursprünglich wurde die Ethnographie zur Erforschung von traditionellen, naturnah lebenden Völkern eingesetzt.13 In jüngerer Vergangenheit wird der Ansatz auch in der Konsumforschung verwendet. So gibt es beispielsweise eine bekannte, ethnographische Studie zu Harley-Davidson-Motorradfahrern, für die sich einer der Autoren längere Zeit einer Gang anschloss, um die Bedeutung der Motorräder für die Mitglieder, ihr Verhalten, ihre Rituale, und Symbole besser zu verstehen.14 Ebenso wie Harley-Davidson-Fahrer lassen sich auch Triathleten über die Langdistanz als eine eigene soziale Gruppe oder globaler Stamm verstehen, der nicht räumlich begrenzt ist. Sie teilen ähnliche Werte und Lebensstile jenseits nationaler Grenzen, Kulturen, sozialer Schichten und beruflicher Tätigkeiten. Bei den internationalen Veranstaltungen rund um die Welt frönen hunderttausende Mitglieder des globalen Stammes ihrer Leidenschaft. Einmal im Jahr kommen ausgewählte Mitglieder des „Ironman-Stammes“ auf Hawaii zusammen, um ihren König und ihre Königin zu bestimmen und ihnen im wahrsten Sinn des Wortes die Krone aufzusetzen.
Ausgehend von meinen eigenen Erfahrungen und Erlebnissen, die ich im Training und in Wettbewerben über 20 Jahre gesammelt habe, beschreibe und analysiere ich die Bedeutungen, die ich dem Ironman als wichtigen Teil meines Lebens beimesse. Um das eigene Erleben nachvollziehbar zu machen und zu reflektieren, betreibe ich Introspektion, das heißt, eine nach innen gerichtete Beobachtung. Diese Form der Selbstbeobachtung kombiniere ich mit Beobachtungen von Teilnehmern und zahlreichen Gesprächen mit den Mitgliedern des Ironman-Stammes. Mit manchen Triathleten bin ich seit Jahren befreundet und habe mit ihnen viele Ausfahrten mit dem Rad unternommen, an die wir uns heute noch lebhaft erinnern. Andere lernte ich in Trainingslagern näher kennen. Neben den zahlreichen Gesprächen führte ich im Jahr 2020 eine Reihe von Interviews mit ausgewählten Triathleten.15 Die Genderforschung legt nahe, dass Frauen und Männer unterschiedlich an Sport teilhaben und ihm andere Bedeutungen beimessen.16 Daher habe ich bewusst weibliche und männliche Athleten für die Interviews ausgewählt. Neben einem „Rookie“, also jemandem, der vor seinem ersten Ironman steht, habe ich mit Athleten gesprochen, die bereits ein Rennen erfolgreich zu Ende gebracht haben, und solchen, die Ausdauersport schon seit Jahren betreiben und mehrere Langdistanzen absolviert haben. Unter den zehn Athleten sind zwei Profis, ein semi-professioneller Athlet und sieben Amateure, die Triathlon als Hobby neben dem Beruf betreiben. Das Wort Amateur stammt übrigens aus dem Lateinischen und kommt von „Amator“, was für Liebender steht. Dabei kann es sich um einen anderen Menschen oder eine Sache handeln, die man liebt und mit Leidenschaft betreibt.
An dieser Stelle werden die zehn interviewten Triathleten kurz vorgestellt. Im nachfolgenden Text wird dann jeweils nur der Vorname genannt, was unter Sportlern üblich ist.