Tod eines Jagdpächters. Thomas Sutter
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»Stimmt«, fuhr Gaby Dederichs fort. »Aber die Ursachen für diese Diagnose sind seelischer Art. Das Medikament hilft den Kindern, besser in ihrer Umwelt zu funktionieren. In ihrer Seele sind sie aber trotzdem weiter leidende Wesen. Sie müssen wissen, dass Ralf von seinem leiblichen alkoholkranken Vater sehr viel Prügel einstecken musste. Im Heim hat er im Prinzip auch einiges über Faustrecht kennengelernt. Sich nichts gefallen lassen und zuschlagen, bevor der andere zuschlägt, das war lange sein Motto. Aber nach einiger Zeit bei uns ist er wieder in die Schule gegangen, und die Lehrer haben uns nicht einmal wegen einer Prügelei oder Ähnlichem kontaktiert.«
»Wussten Sie, dass Ralf von dem Ermordeten dabei erwischt worden ist, dass er Jäger-Hochstände verwüstet hat und deshalb von ihm zusammengeschlagen wurde?«, erkundigte sich Funk.
Die Erzieherin war betroffen. »Ich habe seine Nase und die geschwollene Lippe gesehen und sein blutiges Sweatshirt in der Wäsche gefunden. Er hat mir gesagt, er sei hingefallen. Ich habe nicht weiter nachgehakt. Sicher war ich besorgt und hatte die Befürchtung, dass da was anderes vorgefallen ist. Aber ich wusste, dass Ralf nichts weiter dazu sagen würde.«
Der Erzieher kam mit dem kleinen Jungen wieder aus dem Bauwagen. Das Kerlchen hatte frische Sachen an und rannte sofort wieder freudestrahlend zu seinen Spielkameraden. Beltel ahnte, dass auch die frische Kleidung nicht lange trocken bleiben würde und lächelte in sich hinein. Dann kam er zu der Frage, die ihm am Herzen lag: »Frau Dederichs, könnten Sie sich vorstellen, dass Ralf für die Prügel, die er bezogen hat, Rache genommen haben könnte?«
Die Frau zögerte kurz. Dann klang ihre Antwort umso entschlossener. »Herr Beltel, Ralf ließ sich nichts gefallen, und er reagierte auf Gewalt mit Gegengewalt. Aber kaltblütig jemanden ermorden? Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Er konnte in enorme Wut geraten. Insofern wäre es möglich, dass er im Affekt reagiert hätte. Dennoch traue ich es ihm nicht zu, einen Racheakt über Tage zu planen und dann mit einem Mord in die Tat umzusetzen.«
»Aber was glauben Sie, weshalb Ralf nun abgehauen ist?«
»Wie Sie wissen, hat Ralf in der Vergangenheit schon Be-kanntschaft mit der Polizei gemacht, und er hatte noch dieses Misstrauen, dass man ihm immer nur was anhaben wollte. Wahrscheinlich hat er erfahren, dass Sie nach ihm gefragt haben. Ich kann mir denken, dass er Panik bekommen hat, weil Sie ihm sowieso nicht glauben würden und dann seine Bewährung futsch wäre.«
»Hat Ihr Mann Waffen im Haus? Oder wissen Sie von Nachbarn, bei denen Ralf ein Gewehr geklaut haben könnte? Hatte Ralf sonst irgendwie Kontakt zu Waffen, war er vielleicht in einem Schützenverein?«
Die Erzieherin schüttelte vehement den Kopf. »Mein Mann hasste Waffen und in unserer Nachbarschaft ist mir niemand bekannt, der ein Gewehr besitzt. Und zu Ihrer dritten Frage: Ralf war nicht in einem Schützenverein, und ich kann mir nicht denken, dass er jemals mit einem Gewehr geschossen hat.«
Beltel nickte und lächelte freundlich. »Wir danken Ihnen für Ihre ehrliche Auskunft, Frau Dederichs. Sie wissen sicher, dass Sie einen weiteren Mann namens Klötsch, der Nirbach geholfen hat, Ralf zusammenzuschlagen, anzeigen können? Ich an Ihrer Stelle würde dies tun.«
»Eine Anzeige ist erst mal nicht das Wichtigste. Die können wir in die Wege leiten, sobald Ralf wieder da ist. Ich hoffe nur, dass ihm nichts passiert ist.« Die Erzieherin begleitete die beiden Polizisten zum Ausgang des Kindergartengeländes. Beltel und Funk verabschiedeten sich und begaben sich in die Richtung ihres Wagens.
Der Poet
Er war schon lange nicht mehr in so einem Waldgebiet gelaufen. Er hatte nicht vor, sich noch einmal richtig in Form zu bringen. Diese Art von Ehrgeiz wäre sinnlos. Es ging nur um dieses herrliche Gefühl der Freiheit beim Laufen, das er lange vermisst hatte. Die frische Luft, fernab von Verkehrsstraßen. Die Ruhe des Waldes und die Erinnerung an den militärischen Drill, der ihm vor langer Zeit so viel gegeben hatte. Außerdem hatte er vor diesem kleinen Lauf die Aufgabe eines Boten erfüllt. Eine Nachricht hinterlassen. Verschlüsselt, aber klar genug, um ein wenig Licht in eine Angelegenheit zu bringen, die ihm seit Langem am Herzen lag. Er grüßte die beiden Männer, von denen er wusste, dass sie Polizisten waren und er war sicher, dass sie seine verschlüsselte Nachricht als richtige Spur deuten würden. Etwas schneller trabte er in die Frische des Waldes.
Außerhalb einer größeren Stadt wie Bonn sind die Menschen in der Regel freundlicher, dachte Beltel mit einem Blick auf den Sportler. Deshalb lebte er auch in Altenahr. Dort waren sogar die großstädtischen Kegelclubtouristen freundlich, besonders, wenn sie besoffen und ausgelassen waren.
Noch wenige Meter vom Auto entfernt, glaubte Beltel an ein Knöllchen. Aber beim Näherkommen sah der Zettel unter der Windschutzscheibe nicht nach etwas Amtlichem aus. Funk hatte ihn zuerst in der Hand. Er entfaltete das Blatt vor den Augen seines Vorgesetzten und las laut:
Der Jäger jagte nicht nur das Tier
Auch Frauen gehörten in sein Revier
Da war ein schönes Mädchen aus Polen
Dem hat er die Unschuld gestohlen
Das arme Mädchen wurde schwanger
Der Jäger wollte nicht an den Pranger
Ivonna Martiniak pflückte Erdbeeren in Loch
Wahrscheinlich tut sie das immer noch
Funk sah Beltel fragend an. »Was für ein Poet hat uns denn dieses Gedicht untergejubelt?«
Beltel war überfragt. Reimen konnte die Person, aber als Poet wollte der Kriminalhauptkommissar sie nicht unbedingt betiteln.
»Da will uns offensichtlich jemand etwas über Nirbach mitteilen.«
»Meinst du wirklich?«
»Es scheint mir, dass wir die Zeilen ernst nehmen sollten.«
Funk nahm ein Tütchen aus dem Handschuhfach und steckte den Zettel dort hinein. »Ja und, was nun?«, wollte er wissen.
»Fahren wir nach Loch. Dort arbeiten polnische, rumänische und Menschen anderer osteuropäischer Nationalitäten als Saisonarbeiter. Fragen wir mal nach einer Ivonna Martiniak. Lassen wir die Kollegen weiter nach Ralf Schmitter suchen. Heute Nachmittag können wir noch mal mit seinen beiden Kumpeln reden, aber du glaubst doch auch nicht, dass der Junge dahintersteckt?« Beltel hatte schon die Wagentür geöffnet und stieg ein.
»Warum ist er dann abgehauen? Das sieht doch sehr nach einem schlechten Gewissen aus. Außerdem war er kein pubertierendes Bürschchen mehr, Manfred. Bei so einer Vergangenheit hat eine ganz andere Entwicklung stattgefunden als bei einem Kind aus normalen Verhältnissen. Wie oft ist es in der letzten Zeit vorgekommen, dass Jungen in seinem Alter dutzendweise Mitschüler und Lehrer abgeballert haben?« Funk war ebenfalls eingestiegen. Vor ihnen ging eine Frau mit einem Dackel an der Leine in Richtung Wald.
Beltel musste wegsehen. »Die Kollegen von der Spurensicherung gehen trotz weniger Anhaltspunkte davon aus, dass der Schuss aus etwa zweihundert Metern abgegeben wurde. Das heißt, der Täter muss mindestens hundert Meter von der Lichtung entfernt und dicht von Bäumen umgeben gewesen sein. Nirbach befand sich zwar auf der Lichtung, aber dennoch, da muss man erst mal einen Standpunkt finden, der einigermaßen freie Sicht und Flugbahn erlaubt. Hat man den, muss man die Konzentration eines Schachweltmeisters beibehalten. Ich habe beim Bund nicht viele Scharfschützen kennengelernt,