Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket). Sebastian Barry

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Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket) - Sebastian  Barry

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nicht mehr, was sie mal waren, aber die Beine halten sich wacker. Die Mäuse, die hinter der Scheuerleiste entlanghuschen, sind zwar schneller, aber das waren sie schließlich schon immer. Eine Maus ist eine fantastische Athletin, wenn’s drauf ankommt, da gibt’s kein Vertun. Aber bei Dr. Grene war ich schnell genug.

      Er klopfte an, was schon mal ein Fortschritt ist gegenüber dem armen Teufel, der mein Zimmer putzt, John Kane, falls sein Name so geschrieben wird – ich schreibe ihn zum ersten Mal auf –, und als er die Tür endlich öffnete, saß ich an einem leeren Tisch.

      Da ich Dr. Grene nicht für einen schlechten Menschen halte, lächelte ich.

      Es war ein Morgen von beträchtlicher Kälte, und auf alles im Zimmer hatte sich ein Frostschleier gelegt. Alles schimmerte. Ich selbst hatte mich in meine vier Kleider gemummt, und mir war mollig warm.

      »Hmm, hmm«, sagte er. »Roseanne. Hmm. Wie geht es Ihnen denn so, Mrs McNulty?«

      »Mir geht es sehr gut, Dr. Grene«, sagte ich. »Das ist aber freundlich von Ihnen, mich zu besuchen.«

      »Es ist meine Pflicht, Sie zu besuchen«, entgegnete er. »Ist das Zimmer heute schon geputzt worden?«

      »Nein«, antwortete ich. »Aber John wird bestimmt bald hier sein.«

      »Das nehme ich auch an«, sagte Dr. Grene.

      Dann durchquerte er das Zimmer und sah aus dem Fens ter.

      »Heute ist der bislang kälteste Tag des Jahres«, sagte er.

      »Bislang«, sagte ich.

      »Und haben Sie alles, was Sie brauchen?«

      »Im Großen und Ganzen ja«, antwortete ich.

      Dann setzte er sich auf mein Bett, als sei es das reinlichste Bett der Christenheit, was ich zu bezweifeln wage, streckte die Beine aus und betrachtete seine Schuhe. Sein langer, ergrauender Bart war scharf wie eine Eisenaxt. Gestutzt wie eine Hecke. Der Bart eines Heiligen. Neben ihm auf dem Bett stand ein Teller, auf dem sich noch die verschmierten Überreste der Bohnen vom Vorabend befanden.

      »Pythagoras«, sagte er, »glaubte an die Seelenwanderung und hat uns den Genuss von Bohnen untersagt, damit wir nicht die Seele unserer Großmutter verspeisen.«

      »Oh«, machte ich.

      »Das kann man bei Horaz nachlesen«, sagte er.

      »Gebackene Bohnen von Batchelor?«

      »Vermutlich nicht.«

      Dr. Grene beantwortete meine Frage mit gewohnt ernster Miene. Das Schöne an Dr. Grene ist, dass er überhaupt keinen Sinn für Humor hat, was ihn fast schon wieder humorvoll wirken lässt. Glauben Sie mir, an einem Ort wie diesem ist das eine schätzenswerte Eigenschaft.

      »Also«, sagte er, »Ihnen geht es so weit ganz gut?«

      »Ja.«

      »Wie alt sind Sie inzwischen, Roseanne?«

      »Hundert, glaube ich.«

      »Finden Sie es nicht bemerkenswert, dass es Ihnen mit hundert noch so gut geht?«, fragte er, als hätte er zu diesem Umstand irgendwie beigetragen, was er ja vielleicht auch hat. Immerhin bin ich schon seit rund dreißig Jahren, vielleicht noch länger, in seiner Obhut. Dabei ist er selbst alt geworden, wenn auch nicht so alt wie ich.

      »Ich finde es äußerst bemerkenswert. Aber, Herr Doktor, ich finde so viele Dinge bemerkenswert. Ich finde Mäuse bemerkenswert, ich finde die seltsamen grünen Sonnenstrahlen bemerkenswert, die durchs Fenster herein klettern. Auch Ihren heutigen Besuch finde ich bemerkenswert.«

      »Es tut mir leid zu hören, dass Sie noch immer Mäuse haben.«

      »Hier wird es immer Mäuse geben.«

      »Aber stellt John denn keine Fallen auf?«

      »Das schon, aber er spannt die Sprungfedern nicht richtig, und die Mäuse können den Käse problemlos fressen und entwischen wie Jesse James und sein Bruder Frank.«

      Jetzt nahm Dr. Grene seine Augenbrauen zwischen zwei Finger seiner rechten Hand und massierte sie eine Weile. Danach rieb er sich die Nase und stöhnte. Das Stöhnen enthielt all die Jahre, die er in dieser Anstalt verbracht hatte, all die Vormittage seines Lebens hier, all das sinnlose Geschwätz über Mäuse, Behandlungsmethoden und Alter.

      »Wissen Sie, Roseanne«, sagte er, »da ich mich unlängst mit der rechtlichen Position aller unserer Insassen befassen musste, von der in der Öffentlichkeit so viel die Rede ist, habe ich mir noch einmal Ihre Aufnahmepapiere angeschaut, und ich muss gestehen –«

      All dies sagte er in denkbar gelassenem Tonfall.

      »Gestehen?«, fragte ich, um ihn zu ermuntern. Ich wusste, dass er dazu neigte, zu verstummen und privaten Gedanken nachzuhängen.

      »O ja – entschuldigen Sie. Hmm, ja, ich wollte Sie fragen, Roseanne, ob Sie sich vielleicht noch an die näheren Umstände Ihrer Aufnahme hier erinnern können. Das wäre sehr hilfreich – wenn Sie es könnten. Den Grund nenne ich Ihnen gleich – wenn es denn sein muss.«

      Dr. Grene lächelte, und ich hatte den Verdacht, dass die letzte Bemerkung scherzhaft gemeint war, auch wenn ich nicht verstand, was daran komisch sein sollte, zumal er sich normalerweise, wie gesagt, nie an Humor versuchte. Insofern vermutete ich, dass etwas Ungewöhnliches in ihm vorging.

      Aber dann, fast so schlimm wie er, vergaß ich, ihm zu antworten.

      »Können Sie sich an irgendetwas davon erinnern?«

      »Sie meinen meine Ankunft, Dr. Grene?«

      »Ja, ich glaube, die meine ich.«

      »Nein«, sagte ich, denn eine entschiedene, eine unverfrorene Lüge war die beste Antwort.

      »Nun«, sagte er, »leider ist ein Großteil unseres Archivs im Keller von Generationen von Mäusen als Bettstatt benutzt worden, ist ja auch kein Wunder, und nun ist alles ziemlich ruiniert und unlesbar. Über Ihre ohnehin schon schmale Akte sind sie auf höchst bemerkenswerte Weise hergefallen. Sie würde einem ägyptischen Grabmal alle Ehre machen. Bei der leisesten Berührung droht sie zu zerfallen.«

      Danach herrschte langes Schweigen. Ich lächelte und lächelte. Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich in seinen Augen wohl aussah. Ein Gesicht, so zerknittert und alt, so altersversunken.

      »Natürlich kenne ich Sie sehr gut. Im Lauf der Jahre haben wir uns ja oft genug unterhalten. Ich wünschte, ich hätte mir mehr Notizen gemacht. Es sind nur wenige Seiten, was Sie nicht überraschen dürfte. Etwas in mir sträubt sich dagegen, mir viele Notizen zu machen, was in meinem Metier vielleicht nicht eben nachahmenswert ist. Manchmal heißt es, wir bewirken nichts, für niemanden. Aber ich hoffe doch, dass wir unser Bestes für Sie getan haben, trotz meines sträflichen Mangels an Notizen. Ich hoffe es wirklich. Ich freue mich, dass Sie sagen, es gehe Ihnen gut. Mir würde der Gedanke gefallen, dass Sie hier glücklich sind.«

      Ich beschenkte ihn mit meinem ältesten Altfrauenlächeln, als verstünde ich nicht recht.

      »Weiß Gott«, sagte er dann mit einer

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