Die Kinder von Teheran. Mikhal Dekel

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Die Kinder von Teheran - Mikhal Dekel

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während des Krieges in Pionier- und Schulungseinheiten der britischen Armee. Gellner wurde in Paris geboren und wuchs in Prag auf, bis er 1939 vor den Nazis in das englische St. Albans floh. Aus einer solchen Perspektive der „Wandernden und Wurzellosen“, wie Gellner es formuliert hatte, schrieb Auerbach im Istanbuler Exil seine große Studie Mimesis: Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, und unter ähnlichen Vorzeichen begann Gellner mit seinen Forschungen zu Nation und Nationalismus. „Als ich zum ersten Mal die Berberdörfer des Mittleren Atlas sah, mit ihren dicht an dicht gedrängten Stampflehmhäusern – von denen eines exakt wie das nächste aussah, was im Gesamtbild einen geradezu überwältigenden Eindruck von Gemeinschaft* erzeugte –, da war mir schlagartig klar, dass ich eines unbedingt herausfinden musste: Ich wollte erfahren (so gut das einem Außenseiter eben möglich war), wie es war, dort drinnen zu sein“, erklärte Gellner später.2

      Ich selbst wurde in eine Gemeinschaft hineingeboren. Ich wusste früh, „wie es war, dort drinnen zu sein“. Aber mein „dort drinnen“ war kein jahrhundertealtes Berberdorf – es war ein gerade einmal zwei Jahrzehnte junger Nationalstaat mit noch immer nicht abschließend festgelegten Grenzen, mit ständigen Konflikten und einer Bevölkerung, die zu weiten Teilen – so wie mein Vater – anderswo geboren war. Aber jenes „Anderswo“, die Diaspora, hatte in meiner Kindheit keinen Platz. Es wurde „verleugnet“, wie der zionistische Schriftsteller Josef Chaim Brenner schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts erklärt hat. Aufgrund dieser Verleugnung wurde Israel zu meiner einzigen Heimat. Schließlich war es ein Daseinszweck des Staates Israel, dass er Kinder hervorbringen möge, die, unbeschriebenen Blättern gleich, von der schmerzlichen Vergangenheit des jüdischen Volkes frei sein würden. Ich war ein solches Kind. Mir fehlte jeglicher Bezugsrahmen, um mir das Verhältnis meines Vaters zum Iran oder zu den anderen Orten, an denen er gelebt oder die er passiert hatte, bevor er ein Israeli geworden war, überhaupt nur vorzustellen. Ja, ich hatte noch nicht einmal eine Vorstellung davon, wie sein Leben in Polen vor dem Krieg gewesen sein mochte – in Polen, wo, wie ich später herausfinden sollte, seine Familie schon seit acht Generationen gelebt hatte –, ein Leben, das so vollständig ausgelöscht worden war, dass noch nicht einmal in seiner Erinnerung eine Spur davon geblieben schien. In so gut wie jedem der dürftig möblierten Apartments in den verschlafenen Wohnvierteln auf dem Berg Karmel meiner Jugend gab es das: ein Leben, das vor dem Krieg anderswo gelebt worden war, eine komplexe Überlebensgeschichte und eine ganze Familie – Eltern, Geschwister, manchmal auch frühere Kinder oder Ehepartner –, die es vor dem Krieg gegeben hatte und die nun nicht mehr da war. Keiner sprach darüber. Es wurde alles verleugnet.

      „Das solltest du aufschreiben!“, sagte Salar. „Die Geschichte deines Vaters meine ich.“ Ich winkte lachend ab: „Nein, nein – aber du könntest das schreiben. Du bist doch im Iran geboren. Und du bist nicht in den Holocaust verwickelt. Deine Vorfahren waren weder Täter noch Opfer damals. Und du kennst dich besser mit Flüchtlingen aus als ich.“ Salar und seine Brüder waren nach der Islamischen Revolution von 1979 als Teenager in die Vereinigten Staaten geflohen, wie er mir erzählt hatte. Bald fielen mir gewisse Ähnlichkeiten zwischen ihm und meinem Vater auf, kleine, beinahe mikroskopische Wesenszüge und Angewohnheiten, die man wohl nur bemerken konnte, wenn man sich von Kindheit an in das Zusammenleben mit einem Geflohenen eingeübt hatte: die Art etwa, wie Salar ein Papierhandtuch säuberlich in zwei Hälften teilte, um die zweite Hälfte für später aufzuheben; wie er stets seinen Teller leer aß; sein überhaupt leicht ängstlich-besorgtes Verhältnis zu Nahrung; seine Befürchtung, sich zu verkühlen; seine Vorsicht und Zurückgezogenheit.

      „Mein Vater hat keine Geschichte“, gab ich Salar zur Antwort. „Ich werde mich an seinem Porträt versuchen“, hatte ich immer gesagt, wenn Leute mich nach ihm fragten, „aber es wird mir niemals gelingen.“ Vater war ein ruhiger, unauffälliger Mann aus einem beschaulichen Städtchen im Norden Israels gewesen, und inzwischen, vierzehn Jahre nach seinem Tod, war das Bild, das ich von ihm hatte, verschwommen und ziemlich sachlich geworden: ein durchaus umgänglicher, aber zurückhaltender Mann, nicht ganz ohne Strenge, der zu gelegentlichen Wutausbrüchen neigte. Von seiner Familiengeschichte wusste ich nichts; und ich glaubte auch nicht, dass ich auf diesem Weg viel über ihn erfahren würde. Wörter wie „Trauma“ und „Verdrängung“, „Vertreibung“ oder „Zwangsmigration“ kamen mir nicht in den Sinn, wenn ich an ihn dachte – ja, seltsamerweise noch nicht einmal das Wort „Flüchtling“. In meiner Vorstellung war er wohl zuallererst ein Arbeiter – ein fleißiger Mann, der in einer Art von zermürbender Dauergegenwart lebte, wo er tagein, tagaus seine Pflicht erfüllte. Gefühle zeigte er nur selten und hat in meiner Gegenwart nur ein einziges Mal geweint: als nämlich Christopher Walken als amerikanischer Kriegsgefangener in dem Film Die durch die Hölle gehen von seinen Vietcong-Wächtern zu einer Partie russisches Roulette gezwungen und brutal misshandelt wird. Wir schauten uns diesen Film zu Hause im Fernsehen an, mein Vater, mein Bruder und ich, und ich kann mich noch genau erinnern, wie ich zu Vater hinübersah – es war Winter, wenn ich mich recht entsinne, und in unserer Wohnung in Haifa war es wie immer ein bisschen zu kalt – und bemerkte, dass seine blauen Augen gerötet waren und Tränen seine Wangen hinunterliefen.

      Zu Hause waren wir zu sechst: meine Eltern, meine Geschwister und ich, dazu meine Großmutter väterlicherseits, Rachel (Ruchela), die wir „Achel“ nannten: eine zierliche, magere Frau mit bleicher, runzliger Haut und blauen, leicht schräg gestellten Augen, ganz wie mein Vater sie hatte. Hannan war während des Krieges von seiner Mutter getrennt worden, und als sie dann Jahre später in Israel ankam, zog sie bei ihm ein, wohnte dann bei meiner Mutter und ihm, schließlich bei uns allen. Solange ich zurückdenken kann und bis zu ihrem Tod im Jahr 1981 hatte sie ihr kleines Zimmerchen gleich neben der Küche in unserer ruhigen Etagenwohnung auf dem Berg Karmel hoch über Haifa. Wir redeten nicht viel mit ihr, und sie redete nur wenig mit uns – sie redete überhaupt wenig, sondern verbrachte einen großen Teil des Tages in ihrem Zimmer, wo sie las oder Radio hörte. Meine Mutter, die für sie kochte und putzte und ihre Wäsche machte, konnte ihre Schwiegermutter nicht ausstehen. Mein Vater, der meiner Mutter gegenüber oft, uns Kindern gegenüber manchmal, die Beherrschung verlor, ohne dass ein Grund dafür erkennbar gewesen wäre, behandelte Achel stets mit einer liebevollen Fürsorglichkeit. Manchmal blieb die Großmutter den ganzen Tag in ihrer Kammer und kam erst heraus, wenn ihr Sohn von der Arbeit zurückkehrte. Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Vater und seine Mutter jemals gestritten hätten, es gab keinerlei Spannungen zwischen ihnen, nur eine tief empfundene Harmonie. Immer war es, als träten zwei Mannschaften gegeneinander an: er und sie gegen meine Mutter und uns Kinder.

      Als ich sechs oder sieben Jahre alt war – ich hatte gerade schreiben gelernt –, schrieb ich meinem Vater einen Brief, in dem ich ihn fragte, weshalb er seine Mutter lieber hätte als uns. Ich steckte die Botschaft unter sein Kissen im Ehebett meiner Eltern und wartete mit banger Sorge ab, was er dazu sagen würde. Als Hannan den Brief fand, geriet er außer sich vor Wut und schimpfte mich aus, dass er es niemals gewagt hätte, seinem Vater einen derartigen Brief zu schreiben. Ich kann mich noch gut an mein Schuldgefühl erinnern, an die Scham, an den verzweifelten Wunsch, meine Worte zurücknehmen zu können – lauter Gefühle, die mich über Jahre gequält haben. Mein Vater hat danach lange Zeit kein Wort mit mir geredet, und obwohl wir noch ein erfülltes gemeinsames Leben vor uns hatten – viele Momente zusammen, auch viele glückliche –, sollten wir doch nie wieder ganz unbefangen miteinander umgehen.

      In New York, wohin ich 1992 gezogen war, wurde das Leben leichter. Ich heiratete einen Mann, der heiterer war, schuf mir ein Zuhause, das heiterer war, und begann Literaturwissenschaft zu studieren. Mein Vater schickte mir Briefe – rührende, gut geschriebene, überraschend warmherzige –, in denen von einem möglichen Besuch in New York die Rede war und von anderen Plänen, die er für die Zeit seines Ruhestands schmiedete. Aber noch im selben Jahr – er war gerade von einer Reise nach Polen zurückgekehrt, wo er zum ersten Mal seit 53 Jahren seine Vaterstadt besucht hatte – wurde er krank. Im Jahr darauf starb er, im Alter von 66 Jahren, an der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, einer seltenen degenerativen Hirnerkrankung.

      Ich flog nach Israel, um ihn vor seinem Tod noch ein letztes Mal zu sehen. Zum damaligen Zeitpunkt konnte er noch Auto fahren (wenn auch sehr

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