Die Kinder von Teheran. Mikhal Dekel

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Die Kinder von Teheran - Mikhal Dekel

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Kindheit – ein großes, spannungsreiches, potenziell explosives Unterfangen, bei dem Handtücher, Strandmuscheln, Kühlboxen, Sandwiches und fünf menschliche Körper in einen winzigen Renault 4 aus Militärbesitz (und ohne Klimaanlage) gezwängt wurden –, anders als bei jenen vergangenen Ausflügen waren wir jetzt nur zu zweit und hatten jeder nur ein kleines Handtuch dabei, was so etwas wie Nähe, ja sogar eine gewisse Lockerheit ermöglichte, wenn auch der Hauch von Entfremdung nie ganz zu vertreiben war, der sich über uns gelegt hatte, als ich sechs oder sieben Jahre alt gewesen war. Als wir am Saum des Meeres angekommen waren, legte mein Vater seine Oberbekleidung ab (die Badehose trug er schon darunter), legte alles ordentlich zusammen und platzierte den Kleiderstapel zusammen mit seinen blank gewienerten braunen Ledersandalen fein säuberlich auf seinem kleinen Handtuch. Eine ganze Weile ließ er sich im Mittelmeer treiben, die Augen geschlossen, vollkommen friedlich sah das aus. „Eize jam“, sagte er, „was für ein Meer“ – wie er es immer sagte, wenn das Wasser als eine absolut glatte, tiefblaue Ebene vor uns lag. Mein Vater war noch nie ein Mann vieler Worte gewesen, und jetzt hatte er sogar nur noch weniger. Auf der Heimfahrt sagte er mir, ohne dass ich ihn darauf angesprochen hätte, dass er in der letzten Zeit ein paarmal Probleme mit seinem Gedächtnis gehabt habe.

      Als ich einen Monat darauf wieder nach Israel flog, sprach er plötzlich Polnisch – eine Sprache, die ich ihn noch nie zuvor hatte verwenden hören –, lächelte selig und nannte meine Mutter siostra. „Ist das deine Schwester?“, fragte ich ihn. „Natürlich!“, antwortete er, und die Frage schien ihn zu erstaunen. Dann wandte er sich wieder, als wäre nichts gewesen, dem Omelett zu, das meine Mutter ihm vorgesetzt hatte – an demselben kleinen, unaufgeräumten, klebrigen Küchentisch, an dem wir all unsere Mahlzeiten eingenommen hatten, solange ich auf der Welt war. Sanft und milde sah er aus, so als ob die äußere und innere Anspannung, die sich ein Leben lang in seine Züge eingegraben hatte, mit einem Mal einfach dahingeschmolzen wäre und das liebliche, friedvolle ein wenig stumpfsinnige Gesicht eines Kindes freigelegt hätte – eines Polnisch sprechenden Kindes. Noch einmal sechs Wochen später lag er im Koma auf der neurologischen Station der Klinik auf dem Berg Karmel. Sein Körper zuckte und krümmte sich wie in Krämpfen, sein Mund war aufgerissen wie vor Schmerz. Einen Monat darauf starb er.

      In der Woche, als wir nach jüdischem Trauerbrauch für meinen Vater Schiwe saßen, sahen wir uns alte Fotos von ihm an: als ein pausbäckiger Junge in Mütze, Jacke und langen Strümpfen, der auf einem gepflasterten Gehweg seiner polnischen Heimatstadt Ostrów Mazowiecka vor seiner Schwester Riwka (die damals Regina hieß) und seinen Eltern Zindel und Ruchela hermarschiert; als ein sonnengebräunter, inzwischen deutlich schlankerer junger Bursche, der im Kibbuz En Charod auf einem Pony reitet. Als Kadett der israelischen Luftwaffe war er dann wieder ziemlich füllig, trug inzwischen jedoch Schnurrbart. Auf den Fotos von seiner Hochzeit mit meiner schönen jungen Mutter – er war 34, sie 23 – strahlt er übers ganze Gesicht, während er die Hochzeitstorte anschneidet. Mit mir als Kleinkind ist er am Strand zu sehen, und die Fotos von ihm in diversen amerikanischen Nationalparks müssen in den Jahren zwischen 1977 und 1980 entstanden sein, als Hannan für die Ausbildung des Bodenpersonals der israelischen F-15-Kampfjets am Produktionssitz des Luftfahrt- und Rüstungsunternehmens McDonnell Douglas in St. Louis, Missouri, zuständig war. Hannan, der unbestimmt lächelt. Hannan, das Rätsel.

      „War er eigentlich immer schon so?“, fragte ich seine Cousine Noemi, deren ursprünglicher, polnischer Name „Emma“ gewesen war. Damit meinte ich: umgänglich, aber distanziert, unnahbar. „Oder hat erst der Krieg ihn so werden lassen?“ „Immer schon, er war immer schon so“, antwortete sie. „Mit dem Krieg hat das nichts zu tun.“ Noemi-Emma, die fünf Jahre jünger war als mein Vater, war von der Sowjetunion in den Iran gefahren und von dort weiter nach Palästina – zusammen mit meinem Vater und beinahe eintausend anderen jungen Flüchtlingen. Ihre Antwort erleichterte mich, fast war ich stolz auf meinen Vater, dass er sich nicht hatte unterkriegen lassen – ich ahnte ja noch nicht, dass die Erwiderung meiner Großcousine eine bloße Formel war. Wie so viele „Kinder von Teheran“ wies Noemi – die sieben Jahre alt war, als der Krieg ausbrach, in dem sie ihre Mutter, ihren Vater und ihren einzigen Bruder verlieren sollte – die Vorstellung weit von sich, diese Vergangenheit hätte sie oder ihre Cousins auf irgendeine Weise gezeichnet. „Wir haben den Krieg bewältigt“, sagte sie, „wir sind Israelis geworden.“

      Als Salar nach meinem Vater fragte, erzählte ich ihm, was Noemi zu mir gesagt hatte. „Wenn ich daran zurückdenke, werde ich immer ein bisschen skeptisch“, meinte ich, „was dieses ‚Bewältigen‘ des Krieges angeht, und dass sie danach voll und ganz Israelis geworden seien.“ In den linksliberalen Akademikerkreisen, in denen wir beide uns bewegten, wurde Israel damals zunehmend kritisiert, infrage gestellt, ja richtiggehend abgelehnt, und oft ertappte ich mich dabei, wie ich halbherzig das verteidigte, was ich meine Heimat nannte, viele meiner Freunde jedoch als „das zionistische Projekt“ bezeichneten.

      Und je länger ich in New York lebte, desto mehr vermisste ich das Leben in Israel – seine Gerüche, den immer blauen Himmel, die Strände bei Sonnenuntergang –, während mich zugleich die israelischen Politiker und ihre Politik so sehr beunruhigten, dass ich mir ernsthafte Sorgen um die Zukunft unseres Landes machte. Dabei war es nicht nur Israel als solches, sondern die Vorstellung einer nationalen Zugehörigkeit überhaupt, die ich nicht mehr ohne Weiteres für bare Münze nehmen konnte. Schließlich hatte ich mir, wie viele meiner Kommilitonen, die in den 1990er-Jahren an amerikanischen Universitäten ihr Studium absolvierten, die Erkenntnis des Politologen Benedict Anderson zu eigen gemacht, dass Nationen keineswegs historisch ehrwürdige, gleichsam ewige Wesen waren, sondern vielmehr imagined communities, „vorgestellte Gemeinschaften“, die durch ihre geteilten Gründungstexte, Symbol-bilder und Gedenktage überhaupt erst zu einer Gemeinschaft wurden. Wie viele andere Nachwuchswissenschaftlerinnen hatte ich Jahre damit zugebracht, mir darüber den Kopf zu zerbrechen, wie solche Gemeinschaften „konstruiert“, „imaginiert“ und „manipuliert“ wurden. Aber nun, im Angesicht der Fluchterfahrung meines Vaters, erschien mir dieses Modell plötzlich nicht mehr erkenntnisfördernd – ich konnte mir damit ja noch nicht einmal einen Reim auf die Wendungen meines eigenen Lebens machen.

      „Nationen können was Schönes sein“, meinte Salar, „nationale Rituale auch, ein nationales Zugehörigkeitsgefühl – das alles erscheint herrlich, vor allem, wenn man es verloren oder nie gehabt hat.“

      „So einfach ist das nicht“, erwiderte ich, aber eigentlich war ich für seine Bemerkung dankbar. Ich fragte mich, ob mein Vater sein Leben mit Freunden oder mit Fremden geteilt hatte, mit anderen Menschen als uns, seiner Familie. Wie der Psychiater und Traumaexperte Dori Laub schreibt, der selbst als Kind den Holocaust überlebt hatte, ist das Leben vieler jüdischer Überlebender nach dem Krieg entscheidend davon beeinflusst worden, dass die mehr oder minder unbeteiligten Zeugen der Vernichtung – und nicht selten auch die anderen Opfer – jegliche Empathie vermissen ließen, woraus bei den Betroffenen ein Dasein in sozialer Isolation und ohne Freunde resultierte. Langsam begann ich mich zu fragen, ob derartige Mechanismen nicht auch das Leben meines Vaters entscheidend geprägt haben könnten – und damit auch mein eigenes, das von seiner Distanziertheit so sehr beeinflusst worden war. Natürlich konnte ich noch nicht ahnen, wie sehr sowohl Salars Anteilnahme an der Geschichte meines Vaters und mein eigener Anteil daran als auch mein späteres Anteilnehmen an den Geschichten anderer und wiederum die Teilnahme anderer an meiner eigenen Geschichte das Buch prägen würden, von dem ich ja noch gar nicht wusste, dass ich es einmal schreiben würde – das alles wurde mir erst im Laufe meiner Recherchen klar, als ich immer tiefer in die Vergangenheit meiner Familie vordrang und dabei erkannte, wie komplex und vielfältig ihre Verwobenheit mit anderen Vergangenheiten war. Noch wusste ich nicht, dass aus dieser Quelle alle Hoffnung – und auch alles Herzweh – meines Buches strömen würde.

      Aber die Erwähnung der „Kinder von Teheran“ in dem Artikel des Iranian weckte immerhin meine Neugier. Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass Teheran ja nicht nur der rettende Ort war, von dem aus mein Vater nach Israel kam, sondern auch der Ort, wo er während des Krieges tatsächlich gelebt hatte. Und das warf unweigerlich weitere Fragen auf: Wie war er überhaupt im Iran

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