Die Kinder von Teheran. Mikhal Dekel

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Die Kinder von Teheran - Mikhal Dekel

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Polen, die während des Zweiten Weltkriegs aus Sibirien hierhergekommen sind. Bis sie endlich im Iran angekommen sind, mussten sie so viel Hunger und Krankheit erleiden, dass sie hier dann gestorben sind wie die Fliegen. Aber die Iraner waren sehr gut zu ihnen.‘“ Der Film erzählt die Geschichte dieser Güte.

      Zwei Jahre nach unserem ersten Gespräch über die „Kinder von Teheran“ in Salars Büro beschlossen wir, gemeinsam ein Buch über sie zu schreiben. Als israelischer Staatsbürgerin war es mir nicht erlaubt, in den Iran einzureisen, aber Salar fuhr oft dorthin und konnte dort also recherchieren, was mir – und den meisten anderen – so nicht möglich war. Mir gefiel der Gedanke an unsere Zusammenarbeit; sie fühlte sich wie ein Puffer an zwischen der schmerzlichen Vergangenheit meines Vaters und meiner eigenen Gegenwart. Und es war, als hätte ich für meine Betrachtung der jüdischen Vergangenheit ein neues Objektiv bekommen, das meine Perspektive weitete. In politischer, intellektueller und emotionaler Hinsicht war mir das nur recht. Es schien mir eine probate Möglichkeit, solche letztlich ahistorischen Kategorien wie etwa „Antisemitismus“ zu überwinden, und heikle Gegensätze wie die zwischen Juden, Christen und Muslimen noch dazu. Und ich konnte auf diese Weise die tiefe (und immer noch tiefere) Lähmung umgehen, die das Verhältnis zwischen Israel und der Islamischen Republik Iran belastet. Es tat gut, einen verständnisvollen Beobachter an meiner Seite zu wissen, den die Last der jüdischen Geschichte aber dennoch nicht aus dem Gleichgewicht bringen würde.

      Zusammen lasen wir die englische Übersetzung eines zuerst auf Polnisch erschienenen Buches mit Zeitzeugeninterviews von „Teheran-Kindern“, Dzieci Syjonu (in deutscher Übersetzung erschienen als Kinder Zions), gesammelt und zusammengestellt von Henryk Grynberg, einem polnisch-jüdischen Schriftsteller. Und zusammen besuchten wir Grynberg, der schon seit vielen Jahren in McLean, Virginia, lebt, in seinem Haus. Noch nie zuvor hatte ich einen polnisch-jüdischen Schriftsteller getroffen – ja, mir einen solchen auch nur vorgestellt –, der tatsächlich auf Polnisch schrieb; alle polnisch-jüdischen Schriftsteller, die ich aus Israel kannte, schrieben ja auf Hebräisch. Grynbergs Verbindung zur Geschichte der „Kinder von Teheran“ war mir außerdem noch nicht bekannt gewesen. Meine Tante Riwka in Israel, die Schwester meines Vaters, hatte die hebräische Übersetzung von Kinder Zions gelesen und mir erzählt, wie sehr das Buch sie erschüttert hatte, weil die Darstellung ihren eigenen Erfahrungen so genau entsprach.

      Henryk Grynbergs andere Bücher – darunter Der jüdische Krieg, Der Sieg und Drohobycz, Drohobycz, die Salar und ich vor unserem Treffen mit ihm ebenfalls lasen – sind fiktionale Werke, die auf den Erfahrungen des Autors im deutsch besetzten Europa beruhen. Darüber wusste ich schon mehr, und in den meisten Fällen hatte Grynberg sie aus der Perspektive eines kindlichen Erzählers geschrieben. Zions Kinder hingegen war ein nichtfiktionales, ein Sachbuch – eine Collage von Material aus den sogenannten Protokoły Palestyny („Palästina-Protokolle“): Mitschriften von Interviews mit polnischen Juden, die während des Zweiten Weltkriegs als Flüchtlinge über den Iran nach Palästina gelangt sind. Diese Interviews, erklärte Henryk Grynberg uns, waren 1943 in Jerusalem von Mitarbeitern des polnischen Centrum Informacji na Wschód („Informationszentrum Ost“) aufgezeichnet worden, zumeist in polnischer Sprache.1 Das Informationszentrum war ein Organ der polnischen Exilregierung, die alle polnischen Bürgerinnen und Bürger repräsentierte, egal, ob diese sich im besetzten Polen oder im Ausland aufhielten. Sie war nach der deutschen Besetzung Polens geschaffen worden und wurde von den Alliierten anerkannt.

      Diese Koalition aus Sozialisten, Sozialdemokraten, der Bauern- und der Nationalpartei, die sich zunächst in Paris und Angers ansiedelte, wohin ein großer Teil der politischen und militärischen Elite Polens nach Kriegsausbruch geflüchtet war, bevor der deutsche Vormarsch sie nach London gehen ließ, wurde unter der Führung des Exgenerals und früheren Politikers Władysław Sikorski geschlossen, der auch als ihr Ministerpräsident amtierte. Diese Exilregierung war, wie mir plötzlich klar wurde, die Regierung meines Vaters gewesen, als er in Palästina ankam. Nach dem Krieg, erzählte uns Grynberg, waren die Protokolle der Aussagen von Tausenden polnisch-jüdischer und polnisch-katholischer Flüchtlinge von dem „Informationszentrum Ost“ gesammelt und von Jerusalem nach England übermittelt worden, wo sich die polnische Exilregierung befand. Von dort wurden sie nach Irland weitergeleitet – eines von nur zwei Ländern, welche die Exilregierung auch nach Kriegsende noch anerkannten – und gelangten später in den Besitz der Hoover Institution an der kalifornischen Stanford University. Dort schlummerten sie ungestört bis Mitte der Achtzigerjahre, als der Osteuropahistoriker Norman Naimark sie fand und an Grynberg, wie dieser uns weiter erzählte, Kopien der Protokolle schickte, weil er dachte, der Schriftsteller könne diese vielleicht für ein Buch gebrauchen. Aus den Aussagen der jüdischen Kinder aus Palästina stellte Grynberg Zions Kinder zusammen, das neben der polnischen Erstausgabe auch in deutscher, hebräischer und englischer Übersetzung erschien.2 Auf den letzten Seiten des Buches fand ich eine Liste der „polnischen Bürger, die aus der Sowjetunion und dem Iran nach Palästina evakuiert wurden“, und auf dieser Liste wiederum fand ich meinen Vater, seine Schwester und die Cousine der beiden: „Teitel Hannania, lat 14, Ostrów Mazowiecka“; „Teitel Regina, lat 11, Ostrów Mazowiecka“ und „Perelgric Emma, lat 10, Warszawa“. „Teitel“ oder „Tejtel“ (so die polnische Schreibung) war der ursprüngliche Nachname meines Vaters gewesen, bis er ihn in den 1950er-Jahren in „Dekel“ hebraisierte. „Dekel“ ist eine genaue Übersetzung von „Teitel“ – es bedeutet „Palmbaum“.

      Dass mein israelischer Vater hier als ein evakuierter polnischer Bürger aufgelistet war, der womöglich 1943 dem polnischen Informationszentrum in Jerusalem eine Zeugenaussage in polnischer Sprache geliefert hatte, brachte mich mindestens so sehr durcheinander wie damals die Lektüre des Kommentars von Abbas Milani in Salars Büro. Und Henryk Grynberg selbst hatte eine Geschichte, die ihn sehr von allen polnischen Juden unterschied, die ich bisher kennengelernt hatte: Er und seine Mutter waren vor dem Holocaust weder geflohen noch waren sie ins Konzentrationslager gekommen, sondern hatten sich den Krieg über in Polen unter einer falschen katholischen Identität versteckt gehalten. „Ich habe den Holocaust doppelt erlebt: als Jude und als Katholik“, sagte er Salar und mir mit einem traurigen, etwas unsteten Lächeln, „und ich weiß genau, was mit den Juden und den Polen in Warschau passiert ist.“ Er machte Tee für uns, den wir in dem stillen, aufgeräumten Wohnzimmer seines Farmhauses in Virginia tranken, während er aus dem Keller einen Stapel von Originalprotokollen heraufholte, die ihm als Quelle für Zions Kinder gedient hatten. Die Aussage meines Vaters war nicht darunter.

      Nach dem Krieg, erzählte Grynberg, seien einige seiner Klassenkameraden Flüchtlinge gewesen, die aus der Sowjetunion zurückgekehrt waren, aber über sie habe er kaum etwas gewusst. Auch in Polen redete man nämlich nicht darüber, was während des Krieges geschehen war, und seine eigenen schrecklichen Erlebnisse im und nach dem Krieg – darunter die brutale Ermordung seines Vaters durch einen polnischen Nachbarn – rückten erst in den späten 1950er-Jahren ins Zentrum seines nunmehr autobiografisch-fiktionalen Schreibens. Inzwischen, sagte er, bereue er es, seine damaligen Erfahrungen fiktionalisiert zu haben, und sei es auch noch so wenig – so viel sei er seinen Lesern schuldig –, und deshalb habe er die Interviewprotokolle, die er aus Stanford erhielt, in seiner „dokumentarischen Erzählung“ ganz bewusst nur wortgetreu wiedergegeben. Ich erzählte ihm, dass meine Tante sich in seinem Buch wiedererkannt habe, doch auch nach ihrer Aussage suchten wir in dem Stapel leider vergebens. Doch auf dem Umschlag der deutschen Ausgabe seines Buches, die 1995 erschienen ist, da entdeckte ich sie: Meine Tante Riwka Binyamini – die damals noch Regina Teitel hieß – als ein mageres Kind mit blauen Augen und blassen, schmalen Lippen, in einer viel zu großen Wolljacke, die einmal einer Frau mittleren Alters gehört haben musste, ihr Haar mit einem Kopftuch bedeckt. Wie ein „Zigeunermädchen“ sah sie aus, eine kleine Bosnierin oder Polin, vielleicht sogar ein deutsches Mädel: ein blondes, blauäugiges Flüchtlingskind wie aus dem Bilderbuch. Doch ihr Gesicht erkannte ich sofort – ihr Gesicht, das Jahrzehnte später mit seiner Kindlichkeit auch seine Ängstlichkeit verloren hatte, aber doch unverkennbar ihres blieb: der eindringliche, aufgeweckte Blick meiner Tante, ihre vorstehenden Wangenknochen, der blassblaue Farbton ihrer Augen, die ganz denen meines Vaters

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