Die Kinder von Teheran. Mikhal Dekel
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die Kinder von Teheran - Mikhal Dekel страница 5
Und so begann ich, ganz allmählich, der weiten Reise meines Vaters von Polen in den Iran nachzuspüren. Ich las und las, und ich schmiedete Pläne für eine Reise nach Ostrów Mazowiecka, wo mein Vater geboren war, und von dort weiter an einige andere Orte, wo er sich aufgehalten hatte, nachdem er bei Kriegsausbruch über die Grenze zur Sowjetunion geflohen war. Ich folgte seinen Spuren durch ehemals sowjetische Grenzstädte und zur Deportation in eine sibirische „Sondersiedlung“, dann weiter nach Usbekistan, wo er, wie ich herausfand, an Bord eines Schiffes mit Ziel Iran gegangen war, bevor er nach Indien und schließlich – endlich – in das britische Mandatsgebiet Palästina kam. Am 19. Februar 1943 erreichten Hannan, seine Schwester und ihre Cousine ihr Ziel. Mehr als 20 000 Kilometer hatten sie zurückgelegt, den halben Erdumfang, bis sie von Polen nach Palästina gelangt waren. Ich selbst begab mich langsam, vorsichtig, auf die Spuren ihrer Odyssee, ohne eine vorgefasste Theorie, ohne Modell oder festen Fahrplan – „den Akteuren folgen“, würde das der Soziologe Rogers Brubaker nennen –, anstelle irgendwelcher Vorannahmen. Ich folgte den „Kindern von Teheran“ nicht auf einer Reise aus dem „Elend der Diaspora“ in das rettende „Land der Verheißung“, und eigentlich noch nicht einmal von Punkt A nach Punkt B, sondern vielmehr auf einem ergebnisoffenen Weg, auf dem jeder beliebige Durchgangspunkt sich durchaus auch als das Ziel hätte entpuppen können (wie es in anderen Fällen auch durchaus geschehen ist). Ich bemühte mich, ihrer Route so zu folgen, wie sie sie erlebt hatten, wollte mir jeden ihrer Aufenthalte mit eigenen Augen ansehen, um so auch das Hätte, Wäre und Könnte ihrer Reise ans Licht zu bringen.
Natürlich konnte ich nicht einfach in den Brunnen der väterlichen Vergangenheit hinabsteigen, um dort ungehindert aus dem Vollen zu schöpfen. Dagegen sprachen schon die sieben Jahrzehnte des Schweigens, die es zu überwinden galt, dazu die tiefe Kluft des Vergessens, die der Holocaust mit seinem Vernichtungswerk aufgerissen hatte, ganz abgesehen von einem halben Jahrhundert kommunistischer Revisionsbestrebungen sowie der aktuellen Politik in Israel, Iran, Russland, Polen, Usbekistan und den Vereinigten Staaten – einer Politik, die aus der Geschichte folgt, aber selbst auch Folgen dafür hat, wie diese Geschichte erzählt wird. Noch dazu war es nicht leicht, die Geschichte von Flüchtlingen aufzudecken, die ohnehin kaum Spuren hinterlassen und von der Erinnerungskultur und -arbeit der Nationalstaaten meist übergangen werden. Und es war ja auch nicht nur die Geschichte meines Vaters.
So gut wie alle europäischen Juden, die während des Krieges nicht ermordet wurden, waren in der Folge Flüchtlinge. „Die Zeitgeschichte [hat] eine neue Gattung von Menschen geschaffen“, schrieb die politische Philosophin Hannah Arendt – selbst 1933 aus Deutschland geflohen – in einem Essay, der in demselben Jahr und Monat in New York erschien, in dem mein Vater nach Jerusalem kam: „Menschen, die von ihren Feinden ins Konzentrationslager und von ihren Freunden ins Internierungslager gesteckt werden“. Und weiter: „Als Flüchtling hatte bislang gegolten, wer aufgrund seiner Taten oder seiner politischen Anschauungen gezwungen war, Zuflucht zu suchen. Es stimmt, auch wir mussten Zuflucht suchen, aber wir hatten vorher nichts begangen, und die meisten von uns hegten nicht einmal im Traum irgendwelche radikalen politischen Auffassungen. Mit uns hat sich die Bedeutung des Begriffs ‚Flüchtling‘ gewandelt. ‚Flüchtlinge‘ sind heutzutage jene unter uns, die das Pech hatten, mittellos in einem neuen Land anzukommen, und auf die Hilfe der Flüchtlingskomitees angewiesen waren.“3 Damit hatte sie natürlich recht, aber wie ich schon bald feststellen sollte, gibt es auch noch andere Arten von Flüchtlingen, existieren viele Wege, um Zuflucht zu suchen: kürzere oder längere, brutale oder ein wenig freundlichere.
Die meisten jener polnischen Juden, die der Vernichtung durch die Nazis entgingen – etwa 250 000 von rund 350 000 nämlich, die nach dem Krieg noch am Leben waren –, überlebten, wie mein Vater, durch Deportationen ins Innere der Sowjetunion, und dann als Exilanten und Flüchtlinge in Zentralasien, Iran, Indien und Palästina. Hunderttausende von katholischen Polen, Ukrainern, Litauern und vertriebenen Russen waren auf denselben Straßen unterwegs gewesen. Aber auch die Menschen, die schon an den Orten lebten, an die mein Vater und die anderen kamen – Russen, Usbeken, Kasachen und Perser, Juden und Nichtjuden –, wurden von ihrer Begegnung mit den Flüchtlingen beeinflusst, und dasselbe gilt für ihre Fluchthelfer sowie regionale und internationale Hilfsorganisationen. Die Geschichte der Holocaustflüchtlinge gehörte nicht ihnen allein, sondern war zugleich auch die Geschichte Polens, Russlands, Usbekistans, Irans, Israels und zum Teil sogar der Vereinigten Staaten, die Flüchtlingshilfe leisteten. Ihr Schicksal verfing sich in einem Spiel der Kräfte, das bis heute nicht zur Ruhe gekommen ist: im Verhältnis zwischen Polen und Juden; zwischen dem Iran, den Juden und Israel; zwischen „Ostjuden“ und westlich-assimilierten Juden; zwischen Flüchtlingen und der ortsansässigen Bevölkerung; zwischen Juden, Christen und Muslimen. Nur sehr wenig ist bisher über diese komplexe Geschichte geschrieben worden – teils, weil die entsprechenden Archive in Russland, Polen und Zentralasien erst seit vergleichsweise kurzer Zeit der Forschung zugänglich sind; teils aber auch, weil für lange Zeit (und trotz jahrzehntelanger Forschungsarbeit zum Holocaust nebst einem regelrechten „Boom“ von Holocaustgeschichten in der Populärkultur) die Geschichte all jener, die vor den Nazis in die Sowjetunion und in den Nahen Osten flohen, noch immer nicht als Teil der Kategorie „Geschichte des Holocaust“ wahrgenommen wurde. Und so habe ich begonnen, sie zu schreiben.
Abbildung 1: Die Route der „Kinder von Teheran“.
*Kursivierte Begriffe sind auch im amerikanischen Original deutsch.
1
„Hier fühlen sich alle
wie neu geboren“
Iran, August 1942
Eine Frau mittleren Alters sitzt in ihrer Wohnung in Teheran. Ihre Augen sind blau, ihre Haut braun gebrannt. Ihr Name ist Anna Borkowska und sie erzählt, im Grunde, die Geschichte meines Vaters. Geboren ist sie in Warschau und lebt nun noch immer in Teheran. Sie schildert ihren Leidensweg, vom Beginn des Krieges, als sie mit ihrer Mutter von Warschau über die Grenze in die Sowjetunion entkam, über ihre Deportation nach Sibirien und ihren mühsamen Weiterzug nach Usbekistan bis zu ihrer letztlichen Evakuierung in den Iran. Mit halb geschlossenen Augen spielt sie auf ihrem Klavier ein Chopin-Nocturne und erzählt dann von ihrer sorglosen polnischen Kindheit und ihrer Ankunft im Iran im August 1942, in demselben Monat also, ja vielleicht sogar auf demselben Schiff wie mein Vater und die tausend anderen Kinder, die man in Israel nur als die „Kinder von Teheran“ kennt.
Einige Zeit nachdem wir beschlossen hatten, über den Aufenthalt meines Vaters in Teheran im Zweiten Weltkrieg gemeinsam ein Buch zu schreiben, brachte Salar mir aus dem Iran, wo er den Sommer verbracht hatte, eine Kopie des 1983 veröffentlichten iranischen Dokumentarfilms Marsiye-ye gomshode mit (der internationale Verleihtitel lautet The Lost Requiem). Darin geht es um die polnischen Flüchtlinge im Iran der Kriegsjahre, und Anna Borkowska ist die zentrale Protagonistin. In der Dokumentation des Regisseurs Khosrow Sinai ist nie direkt von jüdischen Flüchtlingen die Rede, sondern bloß von der Gesamtheit der Flüchtlinge als „Polen, die in den Iran kamen“. Den Film eröffnet eine Szene auf einem Friedhof: Ein Mann geht mit einem Blumenstrauß in der Hand eine Reihe identischer Grabsteine entlang. Die Gräber sind schlicht, aber nicht ungepflegt. Als die Kamera langsam über die Grabsteine schwenkt, entdeckt man, dass sie polnische Aufschriften tragen. Wir befinden uns auf dem polnischen Gräberfeld der katholischen Abteilung des Doulab-Friedhofs, Teherans größter christlicher Begräbnisstätte. In Pole-e-Firuzeh, einer persischsprachigen Zeitschrift, die Salar mir außerdem mitbrachte, schrieb der Regisseur Sinai, dass er mit der Arbeit an seinem Film begonnen habe, nachdem er anlässlich der Trauerfeier für einen christlichen Freund im Jahr 1969 ganz zufällig auf die polnischen Grabsteine gestoßen war: „Ich sah … Grabsteine, auf die seltsame,