Menschen, die Geschichte schrieben. Группа авторов
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Einhards Vita Karoli war ein glänzendes Werk, viel gerühmt, weit verbreitet, wieder und wieder gelesen und in den historiografischen Grundbestand des Frankenreiches und seiner Nachfolger eingeflochten. Im Mönchtum aber regten sich düsterere Stimmen, die nicht oder nicht vorbehaltlos in den reinen Lobgesang einstimmen mochten. Erschrecken und aufrütteln sollten sie stattdessen. Eine dieser Stimmen war die Visio Wettini, die Jenseitsschau eines Reichenauer Mönchs namens Wetti auf dem Totenbett, eine im Ursprung vielleicht echte „near-death-experience“. Sie ist als Prosa-Aufzeichnung überliefert und wurde von Walahfrid Strabo, dem berühmtesten Dichter der Reichenau, zudem in Verse gesetzt; zahlreiche Handschriften verbreiteten sie und hielten das Wissen um Karl den Sünder lebendig.4
Der Sterbende pries und lobte den fränkischen Kaiser ob seiner Sorge für die Kirche und verdammte ihn zugleich ob seiner Sünden. Er schaute ihn, den Vater des regierenden Ludwig des Frommen, als abschreckendes Beispiel an den Läuterungsberg verbannt und heimgesucht von schlimmster Pein. Die Mönche der Reichenau und im Reich und nicht zuletzt die Herren am Hof sollten nachdrücklich gewarnt sein, sich – wie der gelehrte Walahfrid erläuterte – der Freiheit zum Bösen hinzugeben: der einzigen Freiheit, die der hl. Augustinus gelten ließ. Die Dringlichkeit eines neuartigen monastischen Gebetsgedenkens, das den Leidenden im Jenseits Linderung verschaffen könnte, sollte im Inselkloster und allenthalben in den Klöstern des Frankenreichs erkannt werden. Wettis Schau trug das Ihre dazu bei; alsbald wurde das Gedenken tatsächlich praktiziert. Die Botschaft des Visionärs hatte ihre Empfänger in Adel und Mönchtum erreicht.
Nichts aber hielt die Kämpfe um Thron und Reich auf, keine Mahnung, keine Warnung, kein Gebet und kein Gedenken. Die Franken lieferten sich bald die mörderischsten Schlachten. Das Reich des großen Karl zerfiel; Deutschland und Frankreich gingen aus ihm hervor, auch ein stets gefährdetes Königreich Italien. Es blieben nur Erinnerungen; doch diese trieben so auseinander wie die Reiche, die aus den Trümmern des Karlsreiches erstanden. Karl ragte, wir werden es sehen, als ein gemeinsames und zugleich trennendes Erinnerungsmal in dieses Geschehen hinein.
Indes, Einhards „großer König“ hatte das Höchste, den Gipfel des Ruhms noch nicht bestiegen; noch war er nicht „Karl der Große“. Diese letzte Stufe historischer Heroisierung, die zuvor nur Alexander und Konstantin erklommen hatten, betrat Karl erst, soweit zu erkennen, um 885 mit den Gesta Karoli Magni des Mönches Notker.5 Sie überlieferten – an Anfang und Ende verstümmelt und nur wenigen bekannt – eine Sammlung von Karlsanekdoten. Dieselben weckten, Einhards Biografie nicht unähnlich, nostalgische Gefühle, waren legendenhaft verbrämt und geradezu fantastisch ausgestaltet. Karls Urenkel Karl III. soll sich, als er das Kloster St. Gallen besuchte, an ihnen ergötzt und um ihre Niederschrift gebeten haben. Sie gemahnten ihn fortgesetzt an ein und dasselbe: an den Helden Karl, den „unbesieglichsten Kaiser“, invictissimus imperator, an das Ideal von Herrscher, Tatkraft, Macht und Durchsetzungskraft, von Gerechtigkeit auch und Gottgefälligkeit und an Größe – durchweg Eigenschaften, die dem Dritten, dem tobsüchtigen und kranken Karl abgingen. Jede einzelne dieser Episoden verkündete ihrem Auftraggeber die nämliche Botschaft – sich im Gedenken an den großen Ahn seiner eigenen Bestimmung eingedenk zu werden: ‚Karl, werde ein Karl!‘ Was freilich dem einflussreichen Höfling Einhard im Zentrum der Macht versagt geblieben war, fiel auch dem braven Mönch im fernen Kloster St. Gallen nicht zu. Die Erinnerungen mochten ihren Leser ergötzen, aber sie hielten den Untergang von Karls Reich nicht auf. Heroen aber steigen aus solchem Untergang auf: als Tröster, Hoffnungsspender und Zukunftsdeuter.
In der Tat, das Gedenken an einen Heros blieb, unter dem das Reich an äußerer Macht gewachsen war, im Innern friedlich gelebt und Großes geleistet, auch an Glanz nicht seinesgleichen gekannt hatte. Ein Karl nostalgischer und gegenwartskritischer Vorstellungen hielt seinen Einzug ins kulturelle Gedächtnis des Abendlandes, bot das Bild einer Vergangenheit, in der sich eine bessere Zukunft brach. Keine seiner Taten ließ er zurück, weder die ‚guten‘ noch die ‚bösen‘. Als Übeltäter und Sünder, als Feind des Feudaladels, als Held und Heiliger zog er ein. So herausragend Karls Regierung gewesen war, so umfassend setzte nach seinem Tod die Mythisierung ein. Allein Aufstände und Vernichtungsaktionen wie gegen Tassilo von Bayern filterte das alles modulierende und verzerrende Gedächtnis aus, einstweilen jedenfalls, denn die Epik einer späteren Epoche wusste in anderen Umrissen und mit anderen Farben so gut wie das Sündenmotiv auch die Rebellenthematik zu erneuern.
DAS GEDÄCHTNIS
Taten sind Wirklichkeit, schaffen Wirklichkeit und wirken in der Wirklichkeit fort. Wirklichkeit aber fassen wir nur durch Erinnerung. Jede Wahrnehmung speist sich aus den vorwiegend unbewussten Zuordnungen von Sinneseindrücken zu dem bereits vorhandenen Wissen durch das Gedächtnis. Auch die Vorstellungswelten, von denen dieses Buch handelt, sind Wirklichkeit und wirken in Wirklichkeit weiter. Wer sich ihnen zuwendet, hat es ebenfalls mit dem Gedächtnis zu tun. Mythos und Legende sind Formen des kulturellen Gedächtnisses. Einige knappe Bemerkungen zu Erinnerung und Gedächtnis erscheinen deshalb an dieser Stelle unabdingbar. Die Geschichtswissenschaft nimmt sich ja gewöhnlich bloß des Wortlauts ihrer Quellentexte an, den sie geradezu für sakrosankt hält, und übersieht die gestaltenden Kräfte der Erinnerung, die ihn geschaffen haben und nicht aufhören, auf ihn einzuwirken. Sie lassen keinen Sachverhalt unberührt. Gleichwohl sind auch verformte Erinnerungen Wirklichkeit, die neue Wirklichkeiten erzeugt. Erinnerung zielt überhaupt auf Wirklichkeit. Unsere gesamte leibliche und geistige Existenz verdankt sich dem Gedächtnis. Wir sind unser Gedächtnis.
Wirklichkeit also fassen wir nur durch Erinnerung. Wir vermögen es, weil eingehende Sinnessignale in der Sprache des Gehirns aus elektrischen Impulsen und chemischen Prozessen semantisch besetzt und eingespeichert werden, und weil dieses Wissen, soweit es dem deklaratorischen Gedächtnis anvertraut ist, etwa durch die gesprochene Sprache symbolisch Wirklichkeit zu repräsentieren vermag. Aus diesem Grund können wir einem Fremden, der den Weg zu unserer Wohnung nicht kennt, denselben so beschreiben, dass er tatsächlich hinfindet. Auf diesen Effekt setzt auch der Historiker, der die Sprachen seiner Quellen beherrscht und die symbolische Repräsentation zu entziffern vermag.
Doch, wie gesagt, wir erfassen Wirklichkeit nicht unmittelbar. Sie wird uns stets nur durch Erinnerung, und das heißt gebrochen und ausschnitthaft vermittelt. Daran tragen die körperlichen Bedingungen unseres ‚Weltbildapparates‘ Schuld, mit dem wir ausgestattet sind und auskommen müssen. Alle eingehenden Sinnessignale müssen vom Hirn über das ihm verfügbare – nämlich schon eingespeicherte – Wissen bearbeitet, ausgewählt und gedeutet werden, bevor sie zu Bewusstsein gelangen können. Derartige Bearbeitung und Deutung geht jedem Bewusstwerden voraus. Das hat Konsequenzen für jede Wahrnehmung, die ein nur teilbewusster, höchst selektiv operierender Konstruktionsprozess ist – und somit für alle Vergangenheitskonstrukte. Denn Deutung und anschließende Konstruktion, das gesamte Erinnern geschehen, was die Historiker, an den Wortlaut ihrer Quellen gebunden, nicht gerne zur Kenntnis nehmen, niemals identisch; sie sind stets kontextuell und situativ moduliert und befinden sich ununterbrochen im Fluss, manche langsamer – wie in der Regel die Leistungen des semantischen Gedächtnisses, manche schneller – wie gewöhnlich die des episodischen Gedächtnisses. Keine Erinnerung gleicht einer anderen;