Menschen, die Geschichte schrieben. Группа авторов

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Menschen, die Geschichte schrieben - Группа авторов marixwissen

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fixiert. Und selbst der forschende Historiker bleibt von gleichartigem Fließen nicht verschont; auch seine Erinnerungen formen sich kontinuierlich um.

      Das Gedächtnis verfügt über zahlreiche Konstruktions-, Techniken‘ – Teleskopie etwa, Überschreibung, Inversion und andere mehr – und gestattet, von traumatischen Erfahrungen abgesehen, keine Identität der Erinnerungen selbst an dasselbe Geschehen; in der Regel rafft es zusammen, was ursprünglich nicht zusammengehörte, und produziert irreale, aber bedeutungsträchtige Mixturen von Scheinwirklichkeiten. Kein Moment kehrt wieder, auch im Gedächtnis gibt es keine Rückkunft. Erinnerte Wirklichkeit ändert sich somit unablässig; nichts kann sie vor diesem Fließen bewahren.

      Unverändert bleibt allein die vergangene Wirklichkeit. Beide Wirklichkeiten, die einstige und die erinnerte, sind streng auseinanderzuhalten. Doch beider Wirkungen wirken fort und dieses Fortwirken lässt sich erkennen. Der Historiker aber, der wissen will, was einst geschehen, muss diesen Fluss zu seinem Ursprung zurückverfolgen. Wie weit es möglich ist, sei hier nicht erörtert.

      Erinnerung transformiert das Erinnerte somit kontinuierlich; nichts verharrt in ihr unverformt. Jedes einzelne dieser divergierenden Erinnerungsbilder kann Handlungsimpuls werden und damit nachwirken und tatsächlich, soweit es Intentionen und Handeln durchsetzt, soziale Wirklichkeit gestalten. Keines aber verändert die einstige Wirklichkeit, doch ein jedes schafft in seiner Gegenwart und für die Zukunft Neues, das fortan als eigene Realität neben alles Ältere tritt und weiterwirkt. So entfaltet sich ein breiter Fächer von mehr und mehr einander überlagernden und zugleich auseinandertretenden Wirkungen, ein ungebändigter und unzähmbarer, sich in zahlreiche Arme und Seitenkanäle zerteilender, hier und da sich auch wieder vereinender Fluss.

      Nichts bleibt von diesem Fließen, Zerteilen und gelegentlichem Wiedervereinen ausgenommen. Der Historiker hat es zu erfassen und die Folgen zu beschreiben. Alles einstige Geschehen, geht es nur in das Gedächtnis ein, unterliegt derartiger Auffächerung in einstige und erinnerte Realitäten und deren jeweilige Wirkungen. Beide decken sich nicht; sie driften vielmehr, je länger sie wirken und je mehr Erinnerungsträger sich – gleichgültig, ob in schriftlicher Form oder in mündlicher Kolportage – beteiligen, umso unaufhaltsamer auseinander. Der Fächer an Realitäten entfaltet sich mit der Zeit immer breiter und reicher. Das Fließen, Zerfließen, erneute Zusammenfließen endet nimmer, es sei denn, alles versickert und mündet in den spurlosen Untergang ewigen Vergessens. Dann ist der Rest ein Schweigen, das kein Historiker mehr durchdringt.

      MYTHOS KARL

      Heroisierung und Mythisierung sind davon unmittelbar betroffen; sie zeugen von jener Auffächerung der Erinnerungen an Geschehens- und Gedächtnisrealitäten. Sie sind nicht zuletzt deren Ergebnis. Am Beispiel Karls des Großen lässt es sich geradezu mit archetypischer Deutlichkeit aufzeigen. Seine vielfältige Gegenwart im kulturellen Gedächtnis spiegelt mannigfache Formen der Erinnerung und ihrer Wirkungen; ihnen sei im Weiteren nachgegangen. Doch gebietet der verfügbare Raum, mich auf wenige Beispiele zu beschränken: den Herrscher, den Sünder und Heiligen sowie den Heros der Dichter.

      DER HERRSCHER

      Zumal Frankreich und Deutschland hielten durch historiografische oder anekdotische Texte, in der Schule und in mündlicher Erzählung die Erinnerung an den großen König und Kaiser wach. Man gedachte dabei durchaus eines realen Herrschers und legitimierenden Vorbildes, keines metaphysischen Wesens, keines Wundertäters und sagenfernen Schemens. Gleichwohl zeichneten sich von früh an gravierende Unterschiede ab.

      Während Karl im Westen vor allem sachlich-historisch gesehen wurde, Einhards Vita, mit einer Lebensbeschreibung seines Nachfolgers Ludwig, den sogenannten „Reichsannalen“, und weiteren Werken zur Geschichte der Franken zu einem respektablen Geschichtsbuch vereint, dem König Karl II., einem Enkel des Großen, zur Instruktion dargereicht wurde, während alsbald auch dieses zweiten Karls gleichnamiger Enkel Karl („der Einfältige“, wie er mit distinguierendem Beinamen heißt) in legitimierender Absicht die Erinnerung an seinen großen Ahnherrn – wenn auch nicht nur an diesen – pflegte und damit eine Geschichtstradition begründete, die später, nach einem karlsabstinenten Zwischenspiel, in die Grandes Chroniques de France münden sollte, während dergestalt also die westfränkisch-französische Geschichte begründet wurde, verharrte der Osten mit Notkers Gesta Karoli Magni zunächst ganz im Personalen, Episodischen und Anekdotischen. Hier rissen immer wieder mühsam geschaffene Traditionslinien ab. Das Gedenken an Karl blieb davon nicht unberührt. Kein durchlaufendes literarisches Programm scheint das Erhaltene gestaltet und ihm als Ganzem einen über die einzelne Anekdote hinausweisenden Sinn vermittelt zu haben.

      Zwar kursierte Einhards Vita auch im Osten; aber das Rezeptionsmilieu unterschied sich deutlich von jenem des Westens. Hier im Osten waren die Franken nur eines von mehreren Völkern: den Friesen, Sachsen, Thüringern, Alemannen und Bayern, die kaum eine eigene, geschweige denn eine gemeinsame historische Tradition besaßen. Fränkische Herrschaft wurde von den Nichtfranken durchaus als eine fremde empfunden. Ihre Erinnerung an Karl war von unvergessenen Demütigungen durchsetzt und wird im 9. Jahrhundert eher zwiespältig gewesen sein. Zudem teilten die Königssöhne das Reich ihrer Väter in immer kleinere Teile. Doch an welchen sollte sich in besonderer Weise Karls Gedenken heften? Karl III., für den Notker seine Gesta niederschrieb, war für wenige Jahre der letzte Gesamtherrscher über das einstige, längst unaufhaltsam auseinanderdriftende Großreich. Erst nachdem im 10. Jahrhundert Einheit und Unteilbarkeit des Ostreiches gesichert waren, konnte das Karlsgedächtnis dort eine neue Qualität annehmen. Einhards ‚Karlsleben‘ blieb in solcher Umgebung ein isoliertes literarisches Phänomen – dann und wann gelesen, aber ohne eine an die Schöpfermacht der Vorstellungen appellierende Resonanz. Zudem schob sich schon bei Notker statt des historischen Sinns der allegorisch-mystische in den Vordergrund. Er entrückte Karl mehr und mehr dieser Welt.

      Der St. Galler Mönch scheute sich nicht, seine munteren Geschichtchen mit großer, doch ins Leere laufender Geste in einen heilsgeschichtlichen Kontext zu rücken. „Der allmächtige Lenker der Dinge und Ordner der Reiche und Zeiten hat“, so beginnt mit Anspielung auf die Geschichtsvision des biblischen Danielbuches (Dan. 2,31) das erhaltene Fragment der Gesta Karoli magni, „nachdem er die eisernen oder tönernen Füße jener wunderbaren Bildstatue in den Römern zermalmt hatte, das goldene Haupt einer zweiten nicht minder wunderbaren Statue durch den erlauchten Karl in den Franken errichtet.“ Dieser eigenwillige Ausflug in die biblische Apokalyptik diente allein dem Kaiserlob, keiner Beschreibung der Endzeit; sie floss mit einem antik-heidnischen Topos in eins: Mit Karl habe ein neues goldenes Zeitalter begonnen.

      Das Lob war in keiner Weise theologisch oder geschichtstheoretisch durchdacht, obgleich dazu Anlass bestanden hätte. Konsequenzen für seine eigene Darstellung zog Notker ebenso wenig. Derartige ‚Scheintranszen dierung‘ entkleidete gleichwohl Karl seiner diesseitigen Historizität und entrückte ihn in die Gefilde der Mythen und Exempel. Zumal unter den Sachsen schritt die Entweltlichung kräftig voran. Karl wandelte sich dort zum Heiligen. Die Metamorphose half diesem adelsstolzen Volk, das Trauma der Unterwerfung unter fränkische Herrschaft zu verdrängen und sich seiner eigenen Größe zu besinnen.

      Im Westen aber, genauer: in der Ile de France, dem Herzen des künftigen Frankreich, blieb der Kaiser der irdische Herrscher, das reale Vorbild an Herrschertugend. Stets wurde betont, wie er das Recht pflegte, Frieden und Schutz spendete, die Kirchen forderte und in Übereinstimmung mit dem Papsttum handelte. Diese Sicht wirkte, wie angedeutet, zuerst auf Karl II. den Kahlen. Er bekam von Kind an durch seine Mutter Judith Geschichtsbücher zu lesen. Als König handelte er entsprechend: Zumal sein Großvater, dessen Namen er trug, wurde sein Vorbild. Seine Urkunden imitierten des Großen Monogramm, in Compiegne erbaute er sich eine Pfalz, die ein zweites Aachen sein sollte; die berühmte Karlsstatuette des Louvre dürfte er in Auftrag gegeben haben. Der Erzbischof Hinkmar von Reims redigierte für Karls II. Sohn Karlmann die überlieferte Hofordnung

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