Menschen, die Geschichte schrieben. Группа авторов

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Menschen, die Geschichte schrieben - Группа авторов marixwissen

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darin selbstbewusst das Wort, „wendet ihr Nachgeborenen […] euch ratsuchend an meine Wenigkeit. Ich war ja schon in der Verwaltung von Kirche und Hof beteiligt, als sie zur Zeit der Größe und Einheit des Reiches noch glücklich geführt wurden, und ich habe den Ratschlag und die Lehren jener vernommen, die die heilige Kirche in Lauterkeit und Gerechtigkeit lenkten, wie auch derjenigen, die das gefestigte Reich in der Vergangenheit mit mehr Erfolg regierten.“6 Jahrzehnte zurückreichende Erinnerung gestaltete Hinkmars Hofordnung. Der Blick zurück, die Beschwörung der Toten legitimierte – wie solches bisweilen heute noch geschieht. Karl trat dabei keineswegs in einzigartiger Weise in Erscheinung, obgleich er „der Große“ oder „der große Kaiser“ hieß. Die Erinnerung an ihn isolierte ihn nicht; sie vereinte ihn noch mit den wirklichen oder vermeintlichen Taten von Vater und Sohn, und nur im Verbund mit diesen lenkte sie das westfränkische Königtum. So stiftete sie eine Geschichtstradition, die das reale Geschehen der Gegenwart in ungebrochener Kontinuität auch an Karls einstiges und erinnertes Wirken anzuknüpfen erlaubte.

      Gleichwohl entkam auch Hinkmars Gedächtnis den Verformungskräften der Erinnerung nicht. Der Erzbischof machte aus dem Verwaltungstext einen Fürstenspiegel und vermengte, wie zu erwarten, eigene Erfahrungen mit dem Überlieferten, was hier im Einzelnen nicht dargestellt werden soll, was aber dem Text mit dem anderen Charakter auch eine andere Wirkung verlieh. Eine genaue Abgrenzung des früheren von seinem Text, der einstigen von der nun gewünschten Hofordnung ist indessen unmöglich.

      Der Süden des Landes folgte freilich den im Norden vom Königtum in der Ile de France gewiesenen Perspektiven nicht. Zwar bescherten auch Aquitanien und Gothien, wie jene Landstriche damals hießen, dem toten Karl eine hervorragende, wenn auch keineswegs gleichförmige Karriere; doch sie entfernte ihn mehr und mehr von seinen einstigen Handlungen und den Erinnerungskonstrukten des Nordens. Einhards Vita beispielsweise blieb hier weithin unbekannt. Karl verwandelte sich vielmehr in einen bald geliebten und geachteten, bald auch missachteten und gehassten Feudalherrn.

      Sein Bild spiegelte zum Teil das Verhältnis des Südens zum Norden und zum zentralen Königtum, bevor dieses ihn sich wieder unterwarf, zum Teil auch die eigene, konfliktreiche Welt dieses Südens. Zahlreiche Klöster wollten von Karl, einige auch von Chlodwig oder Karls Vater Pippin gegründet sein; Urkunden wurden zumal von Klöstern auf Karls Namen gefälscht, allerlei Legenden und heroische Geschichten in Umlauf gebracht, die weithin die Taten seines Großvaters Karl Martell mit seinen eigenen kontaminierten und dem Enkel zuschrieben, was jener getan; dubiose Karlsreliquien tauchten auf, die nicht aus Aachen, wo sich das Grab befand, wohl aber aus dem Umfeld der Mythen und Sagen stammten, die zunehmend Geschichtsbild und Handeln bestimmten. Die Fiktionen dienten zumeist dem Überlebenskampf der Gemeinschaften gegen benachbarte Klöster, Bischöfe und Laien. Die Erinnerung zielte somit auf reale politische Wirkung. Doch auch Missachtung, Spott und Hohn blieben nicht aus. Auch hinter ihnen stand soziale Wirklichkeit. Rebellen durften nun – anders als im einstigen Leben, doch der tatsächlichen Königsferne des Südens gemäß – über den unbesieglichen Karl triumphieren. Gerade die im Süden weit verbreiteten „Chanson de geste“ bildeten ein beliebtes Genus sowohl der Heroisierung als auch der Destruktion dieses Königs.

      Die Geschichte wird in ein wenig anderer Gestalt, gleichwohl noch im 12. oder frühen 13. Jahrhundert auch von den Gesta Karoli Magni ad Carcassonam et Narbonam erzählt, die sowohl auf Lateinisch als auch auf Provençalisch verbreitet waren. Danach hätten die Juden der Stadt Narbonne, als Karl sie belagerte, 70 000 Mark Silber geschickt und ihm angeboten, er könne die Stadt an dem Mauerteil erstürmen, den sie zu schützen hätten. Als Gegenleistung wünschten sie allein, dass ihr „König aus dem Geschlechte Davids“ immer in der Stadt bleiben dürfe. Karl versprach es; und nachdem er die Stadt erobert hatte, bestieg er, das Zepter in der Hand und von einem großen Gefolge umgeben, den königlichen Thron, rief Aimeric von Narbonne vor sich und sprach: „Aimeric, ein Drittel der Stadt gebe ich dem Erzbischof, ein Drittel den Juden, der Rest ist euer.“ Auch jetzt sicherte er alles mit einem Privileg. Noch andernorts wurde diese Geschichte, abermals ein wenig anders, erzählt.

      Alle diese Erzählungen verdeutlichen, wie die Not des Augenblicks in schutzheischender Absicht die Erinnerung an Karl den Großen heraufbeschwor, wie sie ihn zur Wirklichkeit des Symbols erhob, des Imaginationen und Hoffnungen weckenden, gestaltenden, lenkenden Heros. Hinter der Legende stand mancherlei an einstiger Realität: schutzbedürftige jüdische Gemeinden im Süden, der Jude Isaac, der tatsächlich an Karls Hof in Aachen lebte, der Gesandtenaustausch mit Harun al-Rashid, bei welcher Gelegenheit Karl den Aufsehen erregenden Elefanten Abul Abas zum Geschenk erhalten hatte, die echten Schutzprivilegien für die spanischen Flüchtlinge, Karls fehlgeschlagener Kriegszug nach Spanien, die tatsächliche Eroberung Barcelonas und natürlich auch die Eroberung Narbonnes durch den anderen Karl, den Martell. Nichts davon hatte sich in die Geschichten des hohen Mittelalters gerettet. Gleichwohl wirkte eine zur Unkenntlichkeit verformte Erinnerung fort und gestaltete die Realität ihrer Zeit. Der erinnerte Karl gab das Muster ab, an dem man sich handelnd orientierte oder orientieren sollte.

      Der Osten, wie gesagt, brauchte einige Zeit, um an die historische Herrschergestalt anzuknüpfen. Das geschah erst durch Otto den Großen, einen Sachsen, der, um das auf Selbstständigkeit drängende Lotharingien, zu dem Aachen damals gleich Köln und Trier gehörte, zu gewinnen, sich ein zweites Mal in Aachen salben und krönen ließ und demonstrativ den Thron Karls des Großen bestieg, der tatsächlich noch heute im Aachener Münster steht. Dort zeigte er sich dem Volk. Seitdem beschworen auch die Könige des sächsisch-fränkischen, ostfränkisch-deutschen Reiches in legitimierendem Rückgriff die Erinnerung an den großen Karolinger. Ein Vierteljahrhundert später ließ Otto dort auch seinen gleichnamigen Sohn zum König salben und krönen; seitdem war das Königtum fest mit Aachen und Karl dem Großen verbunden. Dieses „Aachener Königtum“ gab dem frühdeutschen Reich geradezu seine ideelle Mitte.

      Insgesamt freilich erschöpften sich auch diese Evokationen der Vorbildlichkeit Karls in eher episodischen, additiven Aspekten. Sie fanden die längste Zeit zu keinen kontinuierlichen

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