Menschen, die Geschichte schrieben. Группа авторов
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So zeichnete sich nur in Frankreich eine konsequente Entwicklung ab. Sie mündete – leicht fasslich, nachlesbar und zukunftsweisend – in die Grandes Chroniques de France, die, von Ludwig dem Heiligen in Auftrag gegeben und von einem aufwendigen Bildprogramm begleitet, zum Geschichtsbild des spätmittelalterlichen Frankreich schlechthin wurden. Sie wiesen den direkten Weg von den Franken zu den Franzosen, von den Karolingern zu den Kapetingern und später zu den Häusern Valois und Bourbon, von Karl dem Großen zu Ludwig dem Heiligen. Dieser Karl führte mit Selbstverständlichkeit das ruhmreiche Königsbanner, das in ihm und durch ihn geheiligt war und eben gerade, in der Schlacht von Bouvines, über Johann ohne Land und den Kaiser Otto IV. triumphiert hatte: die drei goldenen Lilien auf blauem Grund, das Wappen der französischen Könige.
In Deutschland indessen war nichts dergleichen eingetreten. Hier etablierte sich allein – zaghaft genug und rudimentär – der religiöse Karlskult. Dazu trat der Reichtum an Karlssagen, der sich keinem einigenden Programm unterwarf. Weder dieser noch jener artikulierte ein übergreifendes Ziel, das sich an Karls Namen heftete und der deutschen Geschichte Richtung und Sinn gewiesen hätte. Die Wirkungen der Realität und der Erinnerungen an dieselbe traten in Ost und West eklatant auseinander.
„Karl der Große“ also oder „Charlemagne“? Die Frage wurde in dieser zugespitzten Form 1935 in Deutschland aufgeworfen;17 sie war keineswegs, wie in letzter Zeit gerne behauptet wird, falsch gestellt. Sie entsprang vielmehr der historischen Erfahrung in den unterschiedlichen und in sich noch weiter differenzierenden mittelalterlichen Erinnerungsgemeinschaften des Ostens und des Westens, sowie den davon ausgehenden realen politischen und sozialen Wirkungen, die bis tief in die Neuzeit reichen. Sie kann auf jenen erwähnten Wirkungsfächer aus Realitäten und realitätsstiftenden Erinnerungen verweisen, von dem oben die Rede ist.
Die Antwort muss gemäß diesem Wirkungsfächer differenzieren: Hier ging es um „Karl den Großen“, dort um „Charlemagne“, und mit ihnen um zwei höchst unterschiedliche Erinnerungsfiguren und divergierende historische Phänomene. Dass weder diese noch jene Figur den historischen Frankenkönig und Kaiser erfasste, der, wenn überhaupt, nur aus dem gedächtniskritischen Rückverfolgen der Erinnerungsströme zu ihrem Ausgang erfasst werden kann, das steht auf einem anderen Blatt. Ein solches endet nicht bei den sogenannten ‚Quellen‘, insofern diese gewöhnlich für den direkten Niederschlag der einstigen Geschehnisse betrachtet werden. Denn auch diese ‚Quellen‘ spiegeln komplexe, transitorische Wirklichkeiten, die in ihrer Flüchtigkeit kaum fassbar sind; sie sind nahe oder ferne Gedächtnisprodukte und müssen als solche analysiert werden. Wie weit das möglich ist, sei an dieser Stelle nicht erörtert.
Indes, wir sind dem historischen Geschehen vorausgeeilt. Denn noch vor dem königlichen Heros und Helden trat, wie eben erwähnt, der Sünder Karl in das kulturelle Gedächtnis und entfaltete über dasselbe eine nachhaltige Wirkung, die schließlich in seine Verklärung als Heiligen mündete und auch den weltlichen Heros, seine Taten und Wirkungen nicht unverwandelt ließ.
SÜNDER UND HEILIGER
Der Weg begann mit der erwähnten Vision Wettis. Sie erinnerte an den viel liebenden Karl, einen nimmersatten Weiberhelden und Vater zahlreicher Bastarde, dem im Jenseits, auf den Läuterungsberg verwiesen, ein Untier das ständig nachwachsende Geschlecht zernagte; und sie bediente sich dieser Vision, um psychischen Druck auf den Konvent zu üben und eine neue religiöse Institution, das aufwendige monastische Gebetsgedenken, zu etablieren. Das Mittel zeitigte den gewünschten Erfolg. Das Gebetsgedenken wurde nicht nur eingerichtet, es erwies sich in den kommenden Jahrhunderten als eines der stärksten religiösen und sozialen Handlungsmotive für Klosterstifter und Mönchtum, für Sozialfürsorge und karitative Einrichtungen. Wie dem aber sei, einstige Wirklichkeit und Erinnerung drifteten auch jetzt in ihren realen Wirkungen auseinander und schufen neue Wirklichkeiten, die nichts mehr miteinander gemein hatten.
Nicht minder Fantastisches als die Reichenauer mutete der Autor der „Wunder des hl. Goar“ von 839 seinen Lesern zu. Karl mied danach, als er einst vom Mittelrhein nach Aachen fuhr, den direkten Weg von Ingelheim nach Koblenz. Er hätte ihn an St. Goar und damit an einer von Romanen gepflegten Kultstätte eines Romanen vorbeiführen und ihn dort zum Gebet verweilen lassen müssen. Der König wollte das offenbar vermeiden. Die Strafe ließ nicht lange auf sich warten. Nebel kam auf, und Karl verirrte sich. Nur nach eindringlichem Sündenbekenntnis und inbrünstigem Gebet erreichte er sein Ziel: Seht, auch der mächtigste König wird von dem hl. Goar bezwungen und bekehrt.
Karl also der bußfertige Sünder. Dieser Zug der Legendenbildung fand Nachahmung und Fortsetzung, die in einer großen, unaussprechlichen und bis heute nicht namhaft zu machenden Sünde gipfelte, die Karl beklagte, aber nicht einmal dem hl. Ägidius zu beichten wagte. Diesem aber flog während der Messe ein Brief vom Himmel zu, der dem reuigen Sünder Verzeihung und Gnade verhieß. Das Motiv des Himmelsbriefes lässt sich erstmals in der im 10. Jahrhundert in Südfrankreich, vielleicht im Umfeld des Klosters Saint-Gilles, entstandenen Ägidiuslegende fassen. Es wirkte von dort aus auf weitere Dichtungen des hohen Mittelalters, nicht zuletzt auch auf das deutsche Rolandslied, das am Hof Heinrichs des Löwen entstand. Die Wandlung des Sünders zum Heiligen zeichnete sich nun ab, zumal als die Ägidiuslegende sich mit der Kreuzzugsthematik und dem Jabobuskult vereinte, Karl zum Kreuzritter und zum ersten Jakobspilger, der hl. Ägidius zu einem der vierzehn Nothelfer aufstiegen und ihr Kult zahlreichen Orten realen Gewinn eintrug. Die Kriege der leiblichen Erben und Enkel des großen Karl und die Wirkung der Erinnerung an die Größe seiner Fleischessünden schrieben sich mit divergierenden, doch dauerhaften Folgen in die Geschichte des Abendlandes ein.
Der Heilige erwies sich, wie konnte es anders sein, als stärker denn der Sünder. Die Legendendichter unterschlugen oder vergaßen den Frauenhelden, den Lüstling am Läuterungsberg. „Jungfräulich im Begehren und märtyrergleich im Eifer“ handelte nun der heilige Karl in einer Antifon zum Magnifikat im 13. Jahrhundert, ein himmlischer Fürbitter für die Verzeihung der Sünden.18 Wie war solche Verwandlung möglich geworden? Wie diese qualitative Inversion, die den Sünder zum Mittler der Sündentilgung erhob?
Die Entwicklung setzte, sehe ich recht, in Sachsen ein. Der sogenannte Poeta Saxo, ein anonymer Dichter aus diesem Volk, der kurz vor 900 vielleicht in Corvey die spröden „Reichsannalen“ in Hexameter und Einhards Karlsleben in elegische Distichen setzte, zeichnete den Frankenkönig als den Glaubensbringer seines Stammes, gleichsam als Apostel der Sachsen (ohne ihn direkt so zu nennen). Gottes Erbarmen schenkte diesem verstockten Volk den großartigen Karl als Lehrmeister und Erzieher zum Glauben, der sie mit Gewalt unterwarf, sie, die keine Vernunft zu zähmen vermochte; „so zwang er die Sachsen unwillig zum Heil“. Liebe und Dank gebührten ihm von ihnen. „Durch Karl wurde uns die Hoffnung auf ewiges Leben geschenkt. Wer könnte die Seelen zählen“, so jubelte der Dichter, „die er dem Herrn gewann, indem er die Völker der Sachsen zum Glauben bekehrte? […] Gib, Christus, Karl so zahlreichen Lohn, wie das Gotteslob in Sachsens Kirchen erschallt und die Gläubigen das Bekenntnis ablegen […]. Am Tag des Jüngsten Gerichts steht niemand den Aposteln näher als er.“ Petrus führe dann die Judenchristen an, Paulus die Heidenchristen, Andreas die Griechen, Johannes die Gläubigen Kleinasiens, Matthäus die Äthiopier, Thomas die Inder, „hinter Karl aber folgt freudig der Sachsen Schar, ihm zur Glorie ewiger Seligkeit“.19 Dieser auf Gottes