Im wilden Balkan. David Urquhart
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Wir wendeten uns nach links, ritten am Fuß eines Höhenzuges hinunter, an dem entlang das Tempe-Tal2 verläuft, und sahen nun endlich von Thessalien aus die See und das Delta des Peneios. Silbern glänzte das Wasser im Mond, der hin und wieder durch die Bäume schien. Wieder gegen das dichterische Tal gewendet, kamen wir nach Rapsána, einem Trümmerhaufen, wo wir aber ein höchst bequemes Unterkommen fanden und uns ein Abendessen vorgesetzt wurde, das sich vor dem Küchenzettel der Bauern unterwegs nicht zu schämen brauchte. Die Nacht war weit vorgerückt, und ich musste am nächsten Morgen in aller Frühe nach Ambelákia3 aufbrechen. So kam also die immer schwere Stunde des Abschiednehmens heran. Kapitano Dimo erklärte, der Tag meiner Ankunft sollte als ein Festtag in Karia gefeiert werden, und ich wäre vor der Abreise gar nicht zu Bett gekommen, hätte ich nicht versprochen, den Olymp wieder zu besuchen und einige Monate dort zuzubringen. „Dann“, sagte er, „wollen wir ausgehen und Hirsche und Eber, Wölfe und Füchse jagen, Fasane, Rebhühner und all das Geflügel schießen, das auf dem Nizeros haust. Ab und an wollen wir die Leute besuchen, die drunten in den Ebenen leben, und wollen Fische schießen im Salembria1; dann mögt Ihr gehen, sooft Ihr Lust habt, nach dem Gipfel des Olymp und das ganze Land durchstreifen nach alten Steinen. Aber denkt daran und vergesst mir nicht die Kartoffeln.“
Voll Ungeduld, zu dem Tempe-Tal zu kommen, verließ ich Rapsána bei Tagesanbruch. Bald darauf kletterte ich über den Kamm eines Felsens, und da trat mir plötzlich das Gemälde vor die Augen, dessen Umrisse wiederzugeben ich versuchen will. Gerade vor mir türmte sich die Felsmasse des Ossa empor. Drunten lag das enge Tempe-Tal, der grünliche Strom schlängelte sich durch die Bäume und bildete Inselchen in seinem Bett. Rechts öffnete sich das Tal und bildete eine dreiseitige Ebene. Die Seite des Ossa zur Linken und des Olymp zur Rechten hemmten die Aussicht, bis sie in der Ferne auf den Fuß eines Hügels traf, der in der Ebene vor dem Eingang nach Tempe lag. Dieser Hügel bildet die Grundlinie der anscheinend dreiseitigen Ebene. Dann eröffnen sich wieder in der Ferne jenseits des Hügels und der Außenlinie des Ossa an der einen, der des Olymp an der anderen Seite, zwei Ebenen, die wiederum Dreiecken gleichen, die dem Betrachter ihre Spitzen zuwenden. In der Ebene links, und fast dicht bei dem Ossa, kann man Larissa mit seiner lachenden Oase entdecken, in der zur Rechten Túrnovo1 mit dem weißen Bett des Titaressos, und jenseits derselben berühren die undeutlichen Bergketten des Pindos den Horizont. Der Pindos windet sich um den Fuß des Ossa. Zwischen reichen Feldern und grünen Waldungen und wo er in den engen Pass tritt, steht das Dorf Babá, mit Moscheen und Zypressen geschmückt. Wo der Ossa gegenüber weniger wild und rau ist und wo künstliche Terrassen das spärliche Erdreich zusammenhalten, das der Weinstock liebt, ist Ambelákia mehr hineingesteckt als hineingebaut, und seine prächtig aussehenden Häuser scheinen an den Felsen befestigt. Es lag dem Punkt, auf dem ich stand, unmittelbar gegenüber und fast in gerader Linie mit dem Gipfel des Ossa, der sich hoch auftürmte. Bei Babá beginnt das Tal Tempe, aber da es sich nach links hinzog, konnte ich nur einen kleinen Teil seines Laufs verfolgen, denn die Abgründe nähern sich von beiden Seiten, so dass es aussieht, als fließen Ossa und Olymp zusammen, und das Tal, wo es zwischen den Felsen sichtbar war, glich dem Eingang in eine weite Höhle.
Das Tempe-Tal
Der Anblick Tempes machte größeren Eindruck auf meine Nerven als auf meine Einbildungskraft. Ich fühlte, dass meine Lungen sich erweiterten, dass meine Glieder elastisch wurden, als ich die Luft von Tempe einatmete und seinen Boden betrat. Man kann ebenso wenig die empfundenen Eindrücke beschreiben, wie sie durch eine Beschreibung hervorrufen. Ich rief mir keine Bilder der Vergangenheit zurück, ich zitierte keine Verse aus Pindar oder Lucan1, aber ich fühlte eine Erweiterung meines Daseins und eine Tiefe der Luft, als ich auf die vor mir ausgebreitete Landschaft blickte, die jeden Platz übertrifft, an den so stolze und doch so gewohnte Namen sich knüpfen.
Keine vom Altertum geheiligte Szene hat jemals einen solchen Eindruck auf mich gemacht wie Tempe. Der Grund mag darin liegen, dass hier des Menschen Geist sich nicht an vergängliche Denkmäler knüpft, sondern an die unzerstörbare Größe der Natur selbst, die frisch atmend und lächelnd mit allen Abwechslungen der Lebendigkeit und allen wunderlichen Wirkungen entzückt, so wie die alten Barden aus ihrem Anblick Begeisterung schöpften oder vor ihrem Schrein in Anbetung ausbrachen. Hier ist kein Säulenknauf gefallen, keine Farbe hat ihre Frische, keine Rede ihre Blüte verloren; hier braucht man nichts hinzuzudenken, man darf nur alles genießen; man braucht keine verschwundenen Helden zu betrauern, keine verlorene Sprache zu dolmetschen, keine verwischte Inschrift herzustellen. Der Ossa ist noch so hoch wie er immer war, der Olymp noch so majestätisch, die Ebenen Larissas noch so weit, noch gleitet des Peneios Welle zwischen Ufern, die die Myrte und die Daphne (Seidelbast) tragen. Tausende von Jahren haben nicht die Farben verwischt, in denen der Morgen über diesem Zauberland anbricht, nicht die Majestät des Sonnenuntergangs verringert. Es gehörte noch mit zum Effekt, nach Tempe vom Olymp hinabzusteigen, von Männern begleitet, die Gefährten des Theseus hätten sein können.
Als wir die rauen Klippen hinunterritten, fiel plötzlich unsere Aufmerksamkeit auf Ambelákia an der anderen Seite der Schlucht, wo wir Flintenschüsse hörten. Wir hielten an, um die Art des Gefechts zu beobachten und nachzudenken, wer die Parteien sein könnten. Zwanzig Minuten lang dauerte das Feuern fort, dem oberen Rand des Fleckens entlang, aber wir konnten nicht unterscheiden, ob es ein Angriff auf den Ort oder ein Lärmen unter den Einwohnern selbst war. Kapitano Dimo hatte mir zwei Leute zur Begleitung mitgeschickt. Sie drängten darauf, nach Rapsána zurückzukehren, ich hingegen bestand darauf, vorwärtszugehen, sagte ihnen jedoch, sie möchten umkehren, wenn sie dies wollten. Da nun die Leute immer mit ihren Diensten bei der Hand sind, wenn sie wissen, dass man eben dieser nicht bedarf, so erklärten sie mir, dass sie dazu bereit wären, mir bis ans andere Ende der Welt zu folgen, und nichts dagegen einzuwenden hätten, bis Babá1 mitzugehen. Nachdem sie sorgfältig frisches Pulver nachgeschüttet hatten, schritten wir vorwärts, gingen über den Peneios und erreichten Babá. Der Aga sagte, er wisse nicht, was das Schießen bedeute, doch wenn die Leute droben irgendeine Not hätten, so würde er es schon erfahren haben. Ich kletterte daher die Abhänge des Ossa hinauf, und in etwa zwanzig Minuten stieg ich in den engen Häuserreihen des einst so berühmten und wohlhabenden, jetzt bankrotten und verschollenen Ambelákia umher.
Ambelákia (18. Jahrhundert)
Im ganzen Land sind die Künste des Färbens, Webens, Gerbens und der Lederherstellung häusliche Geschäfte. Die Ingredienzien und Geräte, aber auch das Verfahren, sind daher beständiger Veränderung unterworfen. Auf meine Fragen in dieser Hinsicht lautete die immer wiederkehrende Antwort: „Fragt in Ambelákia“, „das werdet ihr alles in Ambelákia erfahren.“ Sooft ich nach Gegenständen des Ackerbaus, der Verwaltung oder der Statistik des Landes fragte, hieß es: „Wartet, bis Ihr nach Ambelákia kommt. Dort sind Leute mit langen Köpfen, dort findet ihr Leute, die in Europa erzogen sind und euch über alles Auskunft geben werden.“ Ich kam daher nicht nur mit den übertriebensten Erwartungen in diesen Ort, sondern hatte auch alle meine Gedanken über diese Gegenstände bis dahin vertröstet, wo ich von den Weisen in Ambelákia würde belehrt werden. Niemals bin ich heftiger enttäuscht worden! Derselbe Tag, den ich in Ambelákia zubrachte, öffnete mir zuerst die Augen über die moralischen Wirkungen, die daraus entstehen, wenn man junge Morgenländer ausschickt, um abendländische Sitten zu erlernen, oder vielmehr – wie ich es besser ausdrücken sollte – alle und jede Spur dessen zu verlieren, was an ihren eigenen Sitten würdig, freundlich und anziehend ist.
Ich erblickte nun den griechischen Geist in seiner Faschingsjacke und kann die ganze Verachtung und den ganzen Widerwillen begreifen, womit er alle die erfüllen muss, die ihn nur so angetan gesehen haben. Was soll aus Griechenland werden, wenn die verschiedenen Einflüsse Europas so nachhaltig und auf diesen neuen Staat einwirken, wie sie es in Ambelákia getan haben?1
Zwei