Der Schützling. Dirk Koch
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»Kanter hatte viel Interesse an meiner Biografie und meinem Themenschwerpunkt DDR, spielte den Antikommunisten, fragte nach meinen Kontakten in der DDR, ob ich ihm entsprechende Kontakte vermitteln könnte, was ich ablehnte. Er bot mir an, für seinen Info-Dienst zu schreiben, und bat um meinen Lebenslauf nebst Arbeitsproben.« Kanter habe dann Wochen später schriftlich sein Angebot zur Mitarbeit (es sei »der DDR-Sektor schon voll abgedeckt«) zurückgezogen. Seinen Kanter überlassenen Lebenslauf fand Probst nach der Wende in Kopie in seiner Stasi-Akte wieder, »den hat der sofort an das MfS weitergeleitet«.
»Wo her wussten die Kölner Abwehrleute vom Verfassungsschutz von meinem Treffen mit Kanter?«, fragt Probst. »Ich habe mit niemandem darüber gesprochen. Die haben bei dem gehorcht. Ganz klar, die wussten, was der trieb, die hatten Kanters Büro verwanzt.«
Wenn stimmt, was Probst berichtet – und es gibt keinen vernünftigen Grund, an der Korrektheit seiner Aussagen zu zweifeln –, dann hätte Stasi-Agent Kanter zehn Jahre früher enttarnt und abgeurteilt werden können. Dann wäre er nicht erst 1995 nach Zufallsfunden in Stasi-Akten vor Gericht gestellt worden und in einem Geheimprozess vor dem Oberlandesgericht Koblenz mit einer auffallend milden Bewährungsstrafe von zwei Jahren davongekommen. In den Jahren des Kalten Krieges und des angespannten Verhältnisses zur DDR waren die Urteile in der BRD wegen Landesverrats wesentlich härter – Günter Guillaume, dem Spion in Willy Brandts Kanzleramt, hatten die Richter 13 Jahre, NATO-Spion Rainer Rupp zwölf Jahre Knast aufgebrummt.
1985 hätten der damalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heribert Hellenbroich, CDU, der für den Verfassungsschutz zuständige Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann, CSU, der Koordinator der bundesdeutschen Geheimdienste, Kanzleramtsminister Wolfgang Schäuble, CDU, und dessen Chef, CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl einen Prozess gegen Kanter nur wollen müssen. Sie wollten aber nicht, absolut nicht.
In jenen Zeiten, Mitte der 1980er-Jahre, wühlte die Parteispenden- und Flick-Affäre die Bundesrepublik auf. Auf Weisung aus Ostberlin hatte Kanter schon den aufstrebenden Jungpolitiker Helmut Kohl und dessen Unterstützertruppe in CDU und Junger Union mit Barem ausgestattet, herangeschafft mittels Spendentricksereien durch Kanter-Freund Eberhard von Brauchitsch. Der hatte dann den DDR-Agenten 1974 auf den Posten des Vizechefs der Bonner Stabsstelle der Flick KG gehievt und ihn so zum umfassend eingeweihten Mitwisser sämtlicher Schmiergeldzahlungen des Konzerns an bundesdeutsche Politiker befördert.
Kohl hatte sich im Lauf der Jahre Millionenbeträge, zum Teil in bar, illegal zustecken lassen, Schäuble war Mitwisser. So hat es der Generalbevollmächtigte der CDU-Schatzmeisterei, Uwe Lüthje, in einem im Jahr 2000 abgeschlossenen Bekenntnis aufgeschrieben. Laut Lüthje wurden 1982 in bar 4,5 bis 5 Millionen D-Mark unklarer Herkunft – »es könnten auch etwas mehr als 5 Mio. DM gewesen sein« – in schwarze Kassen verschoben, »auf Veranlassung von Helmut Kohl, in Anwesenheit von Wolfgang Schäuble«. Es war in diesen Zeiten, dass Kohl seinen Vertrauten Lüthje fragte, so dessen Niederschrift, ob er als Kanzler nicht »sicherheitshalber zurücktreten solle, ehe das Ergebnis staatsanwaltlicher Ermittlungen mich dazu zwingt«.
Lüthje schreibt über turbulente Tage im September 1982: »Kohl hatte das ›dringende Bedürfnis‹ – so er selber –, mich zu sprechen. Er schimpfte über Eberhard von Brauchitsch – EvB –, dessen Dummheit er es zu verdanken habe, dass er ausgerechnet jetzt mit Uralt-Spenden-Geschichten konfrontiert werde. Er hatte eine Spendenliste mit vier oder fünf Positionen vor sich […] Es waren das Spenden, die er von EvB jeweils in bar erhalten hatte. Mir war das alles neu. Von Bar-Spenden von EvB – und die dann auch noch an den Parteivorsitzenden – hatte ich nie gehört. Seine dringende Bitte an mich: Ich müsste mir ein Konzept und eine glaubwürdige Argumentation einfallen lassen für die Abwicklung dieser Spenden und ihre Weiterleitung in den Bereich der Schatzmeisterei. Dass dies in jedem Fall eine Argumentation an jeglicher Wahrheit vorbei sein würde, interessierte Kohl nicht; es wurde auch gar nicht darüber gesprochen.«
Eberhard von Brauchitsch bestätigt Lüthjes Angaben in seinen Erinnerungen von 1999, Der Preis des Schweigens: »Der Betrag von 30.000 DM«, den Kohls Büroleiterin Juliane Weber »persönlich bei mir abgeholt hatte, war in den Büchern der CDU nicht aufzufinden. Die Weitergabe eines Betrages von 25.000 DM vom März 1979 ließ sich ebenfalls nicht belegen.«
Es hätte Kohl mit ziemlicher Sicherheit den Kopf gekostet, wenn dann auch noch ans Tageslicht gekommen wäre, dass die Schmiergelder für ihn über Jahrzehnte hin mit Wissen und Hilfe eines Stasi-Agenten geflossen sind. Kanter, der sieben Jahre lang, bis 1981, als Flick-Lobbyist brisantes Wissen um die Korruptheit bundesdeutscher Politik aufgehäuft hatte, durfte nicht verhaftet werden. Einen Prozess, in dem Kanter hätte auspacken können, durfte es nicht geben. Schützling Kanter.
Dabei war der westdeutschen Spionageabwehr ein ordentliches Stück Fahndungsarbeit gelungen. Am 26. September 1983 hatte sich im Westberliner Hotel »Am Tauentzien« ein Gerhard Jennrich aus Altena/Westfalen, Europaring 19, ins Gästebuch eingetragen. Es handelte sich um den Wirtschaftswissenschaftler und Stasi-Agenten Dr. Werner Krüger, Deckname »André«. Er war der Verbindungsmann und Instrukteur Kanters alias »Fichtel«.
Krüger war mit der Identität eines tatsächlich existierenden Bundesbürgers unterwegs – eine beliebte Tarnung der Ostberliner Stasi-Zentrale. Doch diesmal funktionierte der Trick nicht. Die westliche Abwehr bekam rasch spitz, dass sich der wahre Jennrich zu Hause in Altena aufhielt. Krüger wurde beschattet, in Berlin am Bahnhof Zoo, im D-Zug 246, 1. Klasse, am 27. September 1983, Abfahrt 7.58 Uhr, über Helmstedt nach Hagen. Dort kaufte er eine Fahrkarte nach Andernach. Im Hauptbahnhof Köln stieg er aus, schlenderte zweieinhalb Stunden durch die Kölner Innenstadt. Weiterfahrt im Eilzug nach Andernach, Ankunft 19.07 Uhr. Im Taxi ließ sich der falsche Jennrich durch das Rheinstädtchen zum Mehrfamilienhaus Konrad-Adenauer-Allee 25 fahren. Zwei seiner Observanten drängten sich mit in den Aufzug, im vierten Stock stieg man aus. Krüger/Jennrich holte einen Schlüssel hervor, sperrte eine Wohnungstüre auf, schloss sie hinter sich und ward nicht mehr gesehen. Der Name auf dem Schildchen über der Klingel: Adolf Kanter.
DDR-Spionagechef Markus Wolf gibt in seinen Erinnerungen (Fußnote: MW Spionagechef im Kalten Krieg, List, 1997) die Abläufe wieder: Man habe eine »Eilmeldung von einer Quelle im Verfassungsschutz« erhalten: »Unser Kontaktmann zu Kanter, Dr. Werner K., gerade auf dem Weg in die Wohnung, die Kanter als Unterkunft für seinen regelmäßigen Besucher gemietet [falsch, Kanter hatte sie gekauft, D. K.] hatte, war enttarnt worden. Er stand seit dem Grenzübertritt unter Beobachtung. Die Beschatter folgten ihm bis vor die konspirative Wohnung. Seine Verfolger warteten noch mit dem Zugriff, weil sie natürlich K.s Gastgeber in flagranti überraschen wollten. In der Wohnung erreichten wir unseren Mann endlich, und es gelang ihm eine abenteuerliche Flucht. Wir fürchteten, eine unserer wichtigsten Quellen zu verlieren. Kanter mußte zum Verhör, dann aber wurden überraschend die Ermittlungen gegen ihn eingestellt. Unser Mann beim Verfassungsschutz, Klaus Kuron, gab Entwarnung: Auf höhere Weisung seien die Untersuchungen gestoppt worden.«
Markus Wolf liegt es fern, die ganze Wahrheit zu schreiben. Woher kam die »höhere Weisung«, von der Klaus Kuron berichtet hat? Kuron war beim Kölner Bundesverfassungsschutz für DDR-Spionageabwehr zuständig, wurde 1992 zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Flick-Manager von Brauchitsch hegte später, nach Kanters kurzzeitiger Verhaftung – er kam 1994 gegen eine Kaution von 150.000 DM gleich wieder frei – mehr als einen bloßen Verdacht: »Alles, was nach 1983 in Richtung Kanter lief, hätte dann faktisch unter Schutz gestanden – Naturschutzpark Kanzleramt, ein dolles Ding.« Kuron bestätigte den Verdacht. Er meldete seinem Stasi-Führungsoffizier Gunther Nels, die Ermittlungen gegen Kanter seien »auf Grund einer direkten, persönlichen Intervention« des Staatsministers im Kanzleramt, des engen Kohl-Freundes Philipp Jenninger, gestoppt worden.
Kohl hat dem Stasi -Agenten das Tor zum Kanzleramt weit geöffnet. »Der darf hier rein«, habe der Pfälzer nach seinem Einzug in die Bonner Regierungszentrale angeordnet,