Der Schützling. Dirk Koch
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»Jenninger hat mir gesagt«, berichtete Gundelach im Gespräch mit dem Autor weiter, »der Kanzler hat mich gebeten, mich um Kanter zu kümmern.« Ihm, Gundelach, habe Jenninger dann aufgetragen: »Wenn ich keine Zeit habe, setzen Sie sich mit dem zusammen.« Von seinen »gelegentlichen« Zusammentreffen mit Kanter im Kanzleramt hat Gundelach einige Eindrücke bewahrt: »Ein unscheinbarer Mann. Leise und höflich. In Auftreten und Kleidung eher unterwürfig mit dem Gehabe eines Sachbearbeiters, das dazu einlud, ihn zu unterschätzen. Hatte etwas Lauerndes, Schleichendes an sich, ein Typ für die Hintertreppe, der die Öffentlichkeit meidet. Aber auch einer, der geduldig und beharrlich ausfragen konnte.«
Wie auch, ohne massiven Eingriff von oben, hätte die Flucht von Kanters Verbindungsmann Krüger/Jennrich aus Andernach gelingen sollen? Richter Joachim Vonnahme, der Kanter am 23. März 1995 statt zu drei Jahren Gefängnis, wie von der Staatsanwaltschaft gefordert, lediglich zu milden zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilte, schildert in seiner geheim gehaltenen Urteilsbegründung den Ablauf der wundersamen Rettung: »Dr. Krüger bemerkte die Beschattung jedoch. Von Andernach aus setzte er sich deshalb telefonisch mit dem Angeklagten in Verbindung, schilderte ihm den Sachverhalt und erklärte ihm, daß er unverzüglich die Heimreise antreten wolle. Dieser holte ihn darauf vereinbarungsgemäß mit dem PKW ab und brachte ihn zum Bahnhof in Koblenz, von wo aus Dr. Krüger nach Hause zurückfuhr. Zwei Versuche, ihn in der Wohnung in Andernach festzunehmen, blieben erfolglos, da sich zu den Zeitpunkten der beiden polizeilichen Durchsuchungen niemand dort aufhielt.«
So viele Ungereimtheiten, und dem Richter sollen sie entgangen sein? Da verfolgten die Staatsschützer Kanters Kontaktmann von Berlin aus quer durch die Bundesrepublik, 25 Beamte aus vier Bundesländern wechselten sich ab. Man hatte es mit einem Profi zu tun, das war ihnen klar.
Die Fahnder hielten im Protokoll über die Beschattung der Zielperson (ZP) in Köln fest: »Alias Jennrich bewegte sich mehrere Stunden in der Innenstadt, wobei er z. B. in einer menschenleeren Straße durch Umdrehen die ihm in Entfernung folgenden Observanten musterte. Dieses Verhalten wiederholte sich. Man konnte davon ausgehen, daß es sich bei der ZP um einen geschulten Inoffiziellen Mitarbeiter handelte.«
Man hatte die Zielperson abends endlich in der Konrad-Adenauer-Allee 25 in Andernach eingekesselt. Und dann soll Kanter mal eben mit dem Auto den falschen Jennrich einsammeln können und zum Bahnhof ins 19 Kilometer entfernte Koblenz chauffieren? Ohne verfolgt und in flagranti mit dem Stasi-Agenten gestoppt zu werden?
Und die Polizei kam, sogar zweimal – zu spät. Sie drang in die konspirative Wohnung ein, aber die war und blieb leer. In einem Schranksafe fand sich lediglich eine handgeschriebene Botschaft für Wohnungsinhaber Kanter. Gefragt wurde nach »wirtschaftlicher Entwicklung«, nach »Auswirkungen der Korruptionsaffäre« in Bonn – gemeint war der Flick-Skandal –, nach Verbindungen der damals regierenden Koalition aus CDU/CSU und FDP zu »führenden Industrie- und Wirtschaftskreisen«.
Richter Vonnahme hat sich offenkundig mit solchen Ungereimtheiten nicht plagen mögen. Der Autor hat ihn 2018 gefragt, ob er durch die Politik unter Druck gesetzt worden sei? Er hat die Frage nicht mit einem klaren Nein beantwortet. »Dazu sage ich nichts.«
In die Einzelheiten ging der Richter in seinem Urteilstext lieber bei Nebenaspekten: »Um dem Angeklagten im Falle der erwarteten polizeilichen Nachforschungen ein Alibi zu verschaffen, ließ Dr. Krüger ihm unter dem Datum des 19. November 1983 einen Brief zukommen, in dem ein ›Hans Frank‹ aus Basel sinngemäß erklärte, er habe überstürzt aus der ihm zur Verfügung gestellten Mansarde des Angeklagten abreisen müssen, da seine Mutter überraschend in ein Krankenhaus eingeliefert worden sei. Nach deren Tod müsse er jetzt den Nachlass regeln, so daß die geschäftliche Zusammenarbeit mit dem Angeklagten für längere Zeit unterbrochen werden müsse. Diese Ausführungen entsprechen, wie auch der Angeklagte wußte, nicht der Wahrheit.«
»Etwa zehnmal pro Jahr« sei es laut Vonnahme seit den 1970er-Jahren zu konspirativen Treffen zwischen Kanter und Krüger gekommen: »Nachdem sich Dr. Krüger über die Unannehmlichkeiten der häufigen Hotelaufenthalte beklagt hatte, einigte man sich im Jahre 1975 darauf, die Begegnungen künftig in dem Anwesen Kanters in Andernach stattfinden zu lassen. Dort betrieb die Schwester Agnes L. des Angeklagten eine Pension, während der Angeklagte einen Schlaf- und einen Büroraum im zweiten und dritten Stock nutzte, die er Dr. Krüger bei dessen Besuchen zur Verfügung stellte. Ende 1981 übertrug der Angeklagte seinen Anteil an dem Gebäude auf seine Schwester und erwarb als Nebenwohnsitz eine Eigentumswohnung in der Konrad-Adenauer-Allee in Andernach, wohin von da an auch die weiteren Zusammenkünfte verlegt wurden. Der Angeklagte händigte Dr. Krüger zu diesem Zweck einen Wohnungsschlüssel aus und stellte ihm ein Zimmer zur Verfügung, in dem er ständig persönliche Sachen deponieren konnte. Somit konnte Dr. Krüger die Wohnung auch dann jederzeit betreten, wenn der Angeklagte wie gewöhnlich tagsüber arbeitete und nur abends verfügbar war. Die Aufenthalte Dr. Krügers erstreckten sich in der Regel über drei bis vier Tage.«
Die Flucht aus Andern ach war Krüger dank Hilfe von ganz oben geglückt. Beim Grenzübertritt am nächsten Tag hätten die westdeutschen Sicherheitsbehörden den falschen Jennrich noch greifen können. Man versuchte es nicht einmal. Erst als Krüger wieder zurück in Sicherheit in der DDR war, bequemte sich der Generalbundesanwalt am 29. September 1983 unter dem Aktenzeichen 7 BJs 225/83 ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Nicht etwa gegen den Inhaber der konspirativen Wohnung und Fluchthelfer Kanter. Sondern »gegen unbekannt«.
Kanter wurde mehrfach von Beamten des Bundeskriminalamtes angehört. Er tischte den Ermittlern eine dünne Geschichte auf und kam damit durch: Ja, er kenne diesen Mann, den die Fahnder als »Jennrich« kannten. Der habe sich ihm vor langer Zeit vorgestellt als Journalist aus Basel mit dem Namen »Dr. Hans Frank«. Er habe zu ihm Vertrauen gefasst und ihm einen Schlüssel zu seiner Wohnung überlassen und ihn spät in der Nacht zum Koblenzer Bahnhof gefahren.
Am 31. Oktober 1984 stellte die Bundesanwaltschaft das Verfahren ein, nach § 170 Strafgesetzbuch mangels »genügendem Anlass« für eine Anklage. Konkrete Gründe für die Einstellung des Verfahrens will die Bundesanwaltschaft auch heute nicht nennen; Akteneinsicht verweigerte sie. Dabei hätten Bundesverfassungsschutz und Bundesregierung 1985 eigentlich einen Erfolg der Spionageabwehr gut gebrauchen können. Der Kölner Behörde war, peinlich, peinlich, in der Abteilung »Spionageabwehr« ausgerechnet der Leiter des Referats »Nachrichtendienste der DDR«, Regierungsdirektor Hansjoachim Tiedge, abhandengekommen. Der alkoholkranke, stark übergewichtige Diabetiker war in die DDR übergelaufen. Warnzeichen – Führerscheinverlust wegen Trunkenheit, Überschuldung, Gehaltspfändungen, Verwahrlosung der Kinder – hatte die Amtsleitung nicht ernst genommen. Über einen Auftritt Tiedges bei einem Grillfest des Bundeskriminalamtes im Sommer 1984 berichtete ein Kollege aus der Abteilung Geheimschutz später, der Regierungsdirektor habe gegen 22.00 Uhr ein »jämmerliches Bild« geboten, in einem »von der Kleidung her ziemlich desolatem Zustand, die Hose offen, von oben bis unten mit Soße bekleckert«.
Wer also sorgte für die Einstellung des Ermittlungsverfahrens? Es war wohl Philipp Jenninger, der Freund Kohls und Kanters. Gleich zwei Verfassungsschützer, Klaus Kuron und Hansjoachim Tiedge, beide zur DDR übergelaufen, zeigten aufgrund ihrer Kenntnisse aus der Kölner Zentrale des Bundesamtes für Verfassungsschutz auf Jenninger als großen Hintermann, der schützend seine Hand über Kanter gehalten habe. Dem Kanzleramtsminister konnte nicht daran gelegen sein, dass es zum Stasi-Skandal und großen Krach mit Ostberlin wegen Kanter kam. Unbehelligt machte Kanter weiter, und die westdeutsche Abwehr schaute weiter weg. Womöglich noch aus anderem Grund.
Stasi-Forscher Helmut Müller-Enbergs hat in den sichergestellten Akten eine sonderbare Entdeckung gemacht. Auf Anraten von Markus Wolf habe sich Kanter zu Beginn der 1950er-Jahre beim rheinland-pfälzischen Verfassungsschutz beworben. So stehe es in einem Bericht, den Wolf über seinen Agenten »Fichtel« verfasst habe. Im Ostberliner Ministerium für Staatssicherheit sei damals Panik ausgebrochen, weil der