Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts. Marcel Köppli

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Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts - Marcel Köppli Basler und Berner Studien zur historischen Theologie (BBSHT)

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schrieb Florentini: «Es gibt kein anderes wirksames Mittel, als dass die Fabriken christianisiert werden, d. h. dass das Christentum die Fabrikbevölkerung – Fabrikherren und Fabrikarbeiter – durchdringe.»184 In Florentinis Einsatz für eine Rechristianisierung der Industrie zeigen sich deutliche Parallelen zum Konzept der Inneren Mission.185

      Mit der sozialen Frage werden die mit der Herausbildung der Industriegesellschaft einhergehenden Bewältigungsstrategien und Krisendiagnosen bezeichnet. Die Kirchen waren durch die soziale Frage grösstenteils überfordert, auch wenn es beispielsweise gerade in der Inneren Mission vielfältige Ansätze gab, innovativ auf die soziale Frage zu reagieren. Sozialpolitisch ­lassen sich im Protestantismus vier verschiedene idealtypische Haltungen – Sozial­­patriarchalismus, Sozialdiakonie, Sozialkonservatismus und Sozialliberalismus – beobachten, wobei der Sozialpatriarchalismus die vorherrschende Haltung war. Die soziale Frage kam in der Schweiz aufgrund besonderer Voraussetzungen anders zum Ausdruck als in Deutschland. So verhinderten beispielsweise die dezentrale Industrialisierung und das früh demokratisierte Staatswesen die Bildung eines Massenproletariats.

      Die Auseinandersetzung des schweizerischen Protestantismus mit der sozialen Frage verlief je nach Institution und theologischer Richtung unterschiedlich. Während die Zürcher Kirche mit ihrer sozialpatriarchalen Haltung die soziale Frage als Bedrohung empfand und lediglich den dürftigen Gottesdienstbesuch der Arbeiter bemängelte, versuchte die schweizerische Predigergesellschaft die soziale Frage theologisch zu beleuchten und engagierte sich auch in sozialkonservativer Weise, indem sie die Einführung eines Fabrikgesetzes auf eidgenössischer Ebene debattierte. Die SGG wiederum versuchte, die soziale Frage sozialstatistisch zu begreifen und diskutierte betriebliche und staatliche Wohlfahrtsbestrebungen, worin sich sowohl sozialpatriarchale, sozialkonservative wie auch sozialdiakonische Ansätze erkennen lassen. In |58| der SGG zeigt sich jedoch auch, dass seit den 1870er Jahren der sozialpolitische Konsens zunehmend erodierte und sich verschiedene, teilweise gegensätzliche sozialpolitische Haltungen zu etablieren begannen. Die theologischen Richtungen ihrerseits analysierten die soziale Frage wiederum anders. Die Reformer betrachteten diese primär als eine negative Begleiterscheinung der industriellen Revolution, die Vermittler als eine Konsequenz der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich und die Bekenntnistreuen als eine Folge der sittlich-moralischen Verrohung der Unternehmer und Arbeiter. Als Lösung plädierten die Reformer sozialkonservativ für staatliche Interventionen, während die Vermittler und die Bekenntnistreuen sozialpatriarchal eine Lösung durch betriebliche Wohlfahrtsbestrebungen der Unternehmer und Fleiss und Strebsamkeit der Arbeiter anstrebten. Stärker noch als die Vermittler betonten die Bekenntnistreuen, dass die soziale Frage letztlich nur durch göttliches Eingreifen gelöst werden könne. Eine Möglichkeit für dieses göttliche Eingreifen sahen sowohl die Vermittler wie auch die Bekenntnistreuen in patriarchalen, christlichen Unternehmern, welche die soziale Frage innerhalb ihres Betriebes, also patriarchal, im christlichen Geist mit betrieblicher Wohlfahrt lösten.

      Ob, und wenn ja inwiefern, der schweizerische Protestantismus bezüglich der sozialen Frage versagt habe, ist in der Forschung umstritten.186 Es lassen sich zwei verschiedene Einschätzungen beobachten: Auf der einen Seite beklagen Autoren, meist religiös-sozialer Herkunft, die Entwicklung des sozialen Denkens habe den Kirchen abgerungen werden müssen, der schweizerische Protestantismus habe die soziale Frage zu wenig ernst genommen sowie deren Tragweite viel zu spät erkannt. Markus Mattmüller schreibt: «Die reformierten Christen der Schweiz haben sich, soviel man weiss, nur sehr langsam an die Bewältigung […] [der sozialen Frage] gemacht.»187 Auf der anderen, tendenziell eher konservativen Seite steht eine würdigende und apologetische Einschätzung der Leistungen des schweizerischen Protestantismus, wie sie beispielsweise von Albert Hauser formuliert wurde: «Kann man angesichts aller dieser Worte und namentlich auch Taten noch behaupten, unsere Kirche habe auf sozialem Gebiet versagt? Darf man weiterhin von einer ‹Schuld der Kirche› sprechen? Wäre es nicht richtig und der Wahrheit entsprechend, endlich einmal unmissverständlich zu sagen, dass die Vertreter der protestantischen Kirche zu denen gehörten, die, auf die Stimme des Evangeliums horchend, ausserordentlich früh, nämlich schon zu Beginn der industriellen Revolution, sich |59| der sozialen Frage annahmen?»188 Die Untersuchung der verschiedenen Quellen hat bestätigt, dass Mattmüller die Situation treffender beurteilt als Hauser. Tatsächlich ist es erstaunlich, mit welch apologetischem Interesse sich beispielsweise die Zürcher Kirche mit der sozialen Frage befasste und dabei nur die sozialpatriarchale Haltung propagierte und weder sozialdiakonische noch sozialkonservative Ideen diskutierte. Dennoch lassen sich in der schweizerischen Predigergesellschaft, bei den Reformern und vor allem in der SGG auch Ansätze erkennen, die deutlich über den Sozialpatriarchalismus hinausgehen.

      Die folgenden Erkenntnisse dienen nun der weiteren Untersuchung der protestantischen, christlichen Unternehmer, insbesondere des SABBK: Erstens erhielten die christlichen Unternehmer am meisten Rückhalt von konservativer Seite, die aber auch die grössten Hoffnungen auf ihre sozialpatriarchalen Bestrebungen setzten. Zweitens wird die Erkenntnis festgehalten, dass sechs Mitglieder des SABBK bereits im Jahr 1868 miteinander in einer Kommission der SGG über die soziale Frage debattierten.

      Im nächsten Kapitel soll nun aber vorerst danach gefragt werden, was unter einem christlichen Unternehmer verstanden werden kann und was für Forschung zu diesem Thema bereits existiert.

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      3. Christliche Unternehmer im 19. Jahrhundert

      Wie im vorangehenden Kapitel dargestellt, haben die Kirchen im 19. Jahrhundert vielfältig auf die soziale Frage reagiert. Insbesondere in konservativen und erwecklich-pietistischen Kreisen (in der Schweiz auch «Bekenntnistreue» genannt) erhoffte man sich eine Lösung der sozialen Frage durch patriarchal eingestellte christliche Unternehmer. Im vorliegenden Kapitel soll die Forschung diskutiert werden, die bereits über christliche Unternehmer und ihre Auseinandersetzung mit der sozialen Frage publiziert wurde. Hierzu soll zunächst danach gefragt werden, welche Definitionen christlicher Unternehmer diese Forschung entwickelte. Danach soll den Gründen nachgegangen werden, weshalb überhaupt nach christlichen Unternehmern geforscht wurde. In einem weiteren Abschnitt werden sodann in einem Forschungsüberblick christliche Unternehmer und ihre jeweiligen sozialpolitischen Haltungen vorgestellt. Die meisten dieser Unternehmer stammen aus Deutschland. Daran anschliessend wird nach christlichen Unternehmern in der Schweiz gefragt, bevor dann in einem Fazit die wichtigsten Erkenntnisse zusammengefasst werden.

      Der Titel dieser Untersuchung verspricht eine Erforschung «protestantischer Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts». Die Bezeichnung «protestantisch» hat ihren Grund darin, dass alle Unternehmer des SABBK – einzige Ausnahme ist der christkatholische Carl Franz Bally (1821–1899) – formal einer protestantischen Kirche der Schweiz angehörten. Ein zentrales Anliegen der vorliegenden Arbeit besteht nun darin zu zeigen, inwiefern diese protestantischen Unternehmer auch «christliche Unternehmer» waren.

      Die vorliegende Untersuchung fokussiert also auf protestantische – und somit christliche – Unternehmer des 19. Jahrhunderts in der Schweiz. Dabei soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass es auch gegenwärtig in Deutschland |62| und der Schweiz Unternehmer gibt, die sich als «getaufte Christen und Glieder der Kirche […] in der Verantwortung für die Gesellschaft [sehen], in der sie leben und arbeiten. Sie engagieren sich in und für ihre Kirche und beteiligen sich am Dialog zwischen Kirche und Wirtschaft».189 Viele dieser Unternehmer haben sich in verschiedenen Organisationen zusammengeschlossen, beispielsweise im Arbeitskreis Evangelischer Unternehmer (AEM) oder im Bund Katholischer Unternehmer (BKU). Gerade in jüngster Vergangenheit lässt sich im Umkreis dieser Organisationen auch eine intensivierte Auseinandersetzung mit der Frage nach der Verantwortung des Unternehmers/der Unternehmerin für die Gesellschaft beobachten.190

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