Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts. Marcel Köppli

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Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts - Marcel Köppli Basler und Berner Studien zur historischen Theologie (BBSHT)

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spielte Glarus eine Pionierrolle und hatte einen nachhaltigen Einfluss auf die Gesetzgebung dieser anderen Kantone und des Bundesstaates. Die ersten kantonalen Fabrikgesetze entstanden also vor der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die einzelnen Kantone versuchten anfangs durch interkantonale Regelungen andere Kantone ebenfalls für eine Fabrikgesetzgebung zu gewinnen, um eine Benachteiligung eines Kantons im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf zu verhindern. Die Initiative für eine interkantonale Gesetzgebung und die Schaffung eines Konkordates ging ebenfalls von Glarus aus. In den Jahren 1859, 1864 und 1872 fanden drei Treffen statt, die zwar zu keinem direkten Resultat führten, dafür aber das Anliegen eines eidgenössischen Fabrikgesetzes bekräftigten und wichtige Punkte der eidgenössischen Fabrikgesetzgebung bereits vorwegnahmen. Erst mit der Bundesverfassung von 1874 (Art. 34) erhielt der Bund schliesslich gesetzgeberische Kompetenz. Das eidgenössische Fabrikgesetz wurde am 21. Oktober 1877 mit 51,5 % und insgesamt 181 204 Ja-Stimmen angenommen.66 |32|

      Die Auseinandersetzung des schweizerischen Protestantismus67 mit der sozialen Frage ist vielschichtig und uneinheitlich.68 Die Gründe hierfür liegen in den oben dargelegten Kennzeichen der sozialen Frage in der Schweiz sowie der organisatorischen, theologischen und personellen Vielfalt des schweizerischen Protestantismus. Organisatorisch war dieser ein Konglomerat aus unterschiedlich organisierten Kantonalkirchen, Vereinen und kirchlichen Gruppierungen. Theologisch charakterisierte den schweizerischen Protestantismus nach der Mitte des 19. Jahrhunderts zusehends der Kampf um das sich entfaltende sogenannte Richtungswesen. Je nach theologischer Richtung entwickelte |33| sich so eine unterschiedliche Diskussion und Deutung der sozialen Frage. Personell prägten einige Persönlichkeiten und Institutionen die Auseinandersetzung des schweizerischen Protestantismus mit der sozialen Frage. Ein Beispiel ist der bereits erwähnte Glarner Pfarrer Becker, der sich unermüdlich mit der sozialen Frage beschäftigte und mit zahlreichen Publikationen versuchte, eine christliche Antwort auf die soziale Frage zu geben. Ob, und wenn ja inwiefern der schweizerische Protestantismus angesichts der sozialen Frage versagt habe, wird in der Forschung kontrovers diskutiert; Albert Hauser schreibt zum Forschungsstand: «Diese Meinung, das heisst die Auffassung, dass die Kirche nicht oder jedenfalls mit grosser Verspätung sich der sozialen Frage und Umwälzungen angenommen habe, ist noch heute weit verbreitet, und sie wird immer wieder verkündet, wenn es gilt, die wirkliche oder angebliche religiöse oder kirchliche Passivität der Arbeitermassen zu ergründen und zu erklären.»69 Verbreitet ist die kritische Einschätzung wie sie beispielsweise Christine Nöthiger-Strahm äussert: «Lange Zeit hatte die offizielle Kirche die gewaltigen Umbrüche im Sozial- und Wirtschaftsleben des 19. Jahrhunderts nicht wahrgenommen, sie lehnte es ab, zu anderen als den bisher üblichen, nämlich karitativen Massnahmen zu greifen, um die soziale und wirtschaftliche Not grosser Bevölkerungsteile zu mildern.»70 Nach meiner Einschätzung hat im schweizerischen Protestantismus zwar tatsächlich – wie im Folgenden ausgeführt wird – eine frühe und intensive Debatte um die soziale Frage stattgefunden. Doch – und da spricht Nöthiger-Strahm einen zentralen Schwachpunkt an – in der Debatte bestanden die favorisierten Ansätze tatsächlich vielfach lediglich in «karitativen Massnahmen» und an Stelle eines reflektierten sozialpolitischen Handelns war die sozialpatriarchale Haltung vorherrschend. Diese karitativen Massnahmen und die sozialpatriarchale Haltung sollten jedoch nicht unterschätzt werden, denn häufig bereiteten sie indirekt eine sozialpolitische Lösung der sozialen Probleme vor.

      Für eine differenzierte Darstellung und Klärung der Debatte des schweizerischen Protestantismus über die soziale Frage wird im Folgenden die Auseinandersetzung in ihrer organisatorischen und theologischen Heterogenität dargestellt. Dazu wird der Umgang zentraler kirchlicher Institutionen mit der sozialen Frage nachgezeichnet und den vier sozialpolitischen Haltungen zugeordnet. Konkret wird diskutiert, wie sich die Zürcher Kirche, die schweizerische Predigergesellschaft und die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft mit der sozialen Frage auseinandersetzten und welche sozialpolitischen Haltungen sie einnahmen. Wie bereits angesprochen, beschäftigte sich der |34| schweizerische Protestantismus seit Mitte des 19. Jahrhunderts leidenschaftlich mit theologischen Richtungskämpfen. Um die sich anbahnende theologische Heterogenität in der Wahrnehmung und Deutung der sozialen Frage ebenfalls zu beleuchten, soll deshalb auch die Debatte um die soziale Frage in den verschiedenen theologischen Richtungen (Reformer, Vermittler und Bekenntnistreue) dargestellt werden, wobei auch hier wieder nach den propagierten sozialpolitischen Haltungen gefragt wird.

      Wie der Bundesstaat so war auch der Protestantismus föderalistisch organisiert und die einzelnen Kantonalkirchen deshalb nur lose miteinander verbunden. Auch das Verhältnis von Kirche und Staat war in den einzelnen Kantonen unterschiedlich ausgestaltet. Dies hatte zur Folge, dass in den verschiedenen Kantonalkirchen viele unterschiedliche Interpretationsmuster und Lösungsansätze zur sozialen Frage nebeneinander existierten. Aus diesem Grund kam es weder zu einer gesamtschweizerischen Polarisierung noch lassen sich einheitliche Konfliktlinien erkennen. So ergab sich auch keine schweizweite Front mit der Staatsmacht, den Unternehmern und den Kirchen auf der einen und den Arbeitern auf der anderen Seite. Beispielhaft soll nun im Folgenden anhand der Evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Zürich die Auseinandersetzung mit der sozialen Frage auf der Grundlage von Synodeprotokollen analysiert werden.71 Die Zürcher Kirche bietet sich als Untersuchungsgegenstand an, weil ihre Beratungen in den Synodeprotokollen gut zugänglich sind und ausserdem bereits eine gründliche Untersuchung vorliegt.72 Zudem ist der Kanton Zürich besonders interessant, weil er aussergewöhnlich stark durch die wachsende Industrialisierung geprägt war und Zürcher Unternehmer bei der Industrialisierung der Schweiz eine zentrale Rolle spielten.73

      Mitte des 19. Jahrhunderts liess sich in der Pfarrerschaft des Kantons Zürich eine erhöhte Sensibilität für die mit der sozialen Frage einhergehenden |35| Krisenphänomene beobachten. Zahlreiche Publikationen über den vermeintlich bedrohlichen sittlichen und religiösen Zustand geben davon Zeugnis. Im Januar 1848 thematisierte die Synode ein erstes Mal die um sich greifende Verarmung der Gesellschaft.74 Ein erstes Referat zum «Pauperismus»75 – wie damals die mit der sozialen Frage einhergehende Krisenphänomene genannt wurden – hielt der Zürcher Theologieprofessor Johann Peter Lange (1802–1884)76. Lange deutete den Pauperismus als eine Folge der Sünde, als eine zeichenhafte und prophetische Erscheinung, die, ebenso wie die Kometenerscheinungen, die Menschen zu «heilsam[er] Zucht des sündigen Lebens» rufe. Er forderte die Kirche zu einer intensiven Auseinandersetzung mit diesem Thema auf, denn die «Kirche ist zuvörderst ebenso stark verpflichtet, den Pauperismus zu studieren, als ihm abzuhelfen».77 Um dem Pauperismus «abzuhelfen», schlug Lange zehn Massnahmen vor. So machte er sich beispielsweise für eine Stärkung der Eigentumsrechte, die er bedroht fand, stark, schlug die Auswanderung grosser Bevölkerungsgruppen vor und verwies darauf, dass das Problem erst im Jenseits wirklich gelöst werde. Im Anschluss an Lange hielt Hans Rudolf Waser (1790–1878)78 von Bäretswil, der Dekan des Kapitels von Hinwil im Zürcher Oberland, das Korreferat. Er kritisierte seinen Vorredner scharf und betonte, dass es bei diesem Thema keinen Raum für wissenschaftlich abstrakte Studien gebe. Er propagierte dann aber denselben Lösungsansatz wie Lange. Nach Wasers Vorstellung sollte die Kirche den Feind namens Pauperismus durch einen steten Kampf eindämmen, denn «so – Hand in Hand – mit dem Hause, der Schule und dem Staate, und sie alle durchdringend mit dem Geiste von oben, dem Geiste des Christenthums, wirkt die Kirche dem Pauperismus entgegen».79 Zusätzlich zu diesem Kampf sollten die Geistlichen den Pauperismus durch ihr Vorbild eliminieren: «Wir, wir seien zunächst die Stadt, die auf dem Berge liegt [Mt 5,14], auf die jeder Vorübergehende freudig hinaufblicken darf; bei uns, in unseren Haushaltungen, |36| an uns selbst sollen sie Vorbilder finden jeder häuslichen, jeder bürgerlichen Tugend.»80 Mit der Rede von «wir» und «ihnen» machte Waser deutlich, dass die Kirche aus der Perspektive der Besitzenden und Privilegierten sprach. Dem Kommunismus und Sozialismus erteilte Waser eine entschiedene Absage. Im sozialpatriarchalen Sinn empfahl er zur Überwindung des Pauperismus Ehrlichkeit und Sparsamkeit des Arbeiters und väterliche Fürsorge des Arbeitgebers.

      Um das Problem der Verarmung besser verstehen zu können

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