Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts. Marcel Köppli

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Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts - Marcel Köppli Basler und Berner Studien zur historischen Theologie (BBSHT)

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in der die negativen Auswirkungen der Industrialisierung bald in den Hintergrund treten würden: «Nun – auch an vielfachen ganz direkten Beziehungen der Industriegeschichte und der Kirchengeschichte fehlt es keineswegs: wir mögen zurückblicken in vergangene Jahrhunderte, oder vorwärts schauen auf die gesegneten Einwirkungen, welche die grossen Ergebnisse der Industrie, schon den Zeichen der |41| Gegenwart nach zu schliessen, auf die Ausbreitung des Reiches Gottes auf Erden ausüben werden. Unser Thema betont mit allem Rechte das Protestantischsein unsrer Kirche, und unleugbar hat der Protestantismus so viel Lebenssaft aus der Industrie gezogen, noch viel mehr aber Lebenssaft ihr gegeben, dass er die Industrie als eine ihm nicht gar von ferne verwandte Lebensmacht wird anerkennen müssen.»108 Optimistisch sah Hirzel auch einer baldigen sozialpatriarchalen Lösung der sozialen Frage entgegen. Durch Predigt und Seelsorge sollten die Unternehmer zu humaner Fürsorge bewegt werden, damit aus der Fabrik eine christliche Gemeinschaft würde: «Der Fabrikherr soll seine Arbeiterschaft als die Erweiterung seiner Familie betrachten und Freud und Leid, das ihm in seinem Hause widerfährt, seine Arbeiter dadurch miterleben lassen, dass er bei Hochzeits-, Tauf- und Traueranlässen seiner Untergebenen mit Gaben in die Ersparnis- und Krankenkasse eingedenk ist.»109 In der Diskussion im Anschluss an das Referat wurde jedoch Hirzels Euphorie nicht geteilt. Heftig wurde gegen den Sozialismus geschimpft. Dabei wurde nicht, wie in Langes Proposition in der Zürcher Synode, die soziale Not, sondern der Sozialismus als Folge der Sünde angesehen. Einige Pfarrer stimmten jedoch auch versöhnliche Töne an und der Präsident der Predigergesellschaft setzte sich – sozialpolitisch durchaus fortschrittlich – für eine staatliche Arbeitszeitbeschränkung in den Fabriken ein: «Wenn auch Hr. Pfarrer Hirzel uns gewarnt hat, Fleisch für unseren Arm zu halten, so wird er doch damit einverstanden sein, dass der Staat durch seine Gesetze und Verordnungen da eingreifen muss, wo auf anderem Weg nicht geholfen werden kann.»110

      Beim darauffolgenden Treffen der Predigergesellschaft in Genf (1855) sprach Pfarrer Jean-Samuel Chappuis (1809–1870)111 zur sozialen Frage. In seinem Referat bezeichnete er den «Paupérisme» als eine Manifestation des Antichristen.112 Er führte zwar ekklesiologische Überlegungen an, wie der Pauperismus bekämpft werden solle, warnte die Kirche jedoch davor, in diesem Kampf ihre Kräfte zu sehr zu binden. Die Aufgabe der Kirche sei eine geistliche, |42| sie sei vor allem das Hoffen auf den Tag, an dem der Heilige Geist erneut ausgegossen und an dem das Problem des Pauperismus gelöst werde.113

      Nach dem Referat an der Genfer Tagung schwieg sich die Predigergesellschaft einige Jahre über die soziale Frage aus, theologische Richtungskämpfe begannen zunehmend die Verhandlungen zu dominieren. Beispielsweise werden in einem Referat über die Ursachen der Spannungen unter den Christen lediglich die theologischen Richtungskämpfe thematisiert, die zunehmenden sozialen Unterschiede bleiben jedoch unerwähnte114

      Erst 1871 thematisierte der bereits erwähnte Pfarrer Bernhard Becker (1819–1879)115 beim Treffen der schweizerischen Predigergesellschaft in Schaffhausen wieder die soziale Frage.116 Als Pfarrer des im Vergleich zu anderen Kantonen der damaligen Zeit weit industrialisierten Glarus hatte sich Becker sein Leben lang intensiv mit der sozialen Frage befasst und einige bis in die Gegenwart beachtete Aufsätze und Predigten dazu publiziert.117 Der Ton des Referates war pessimistisch. Für Becker bestand die soziale Frage darin, dass die politische Freiheit zwar realisiert sei, diese aber keine soziale Gleichheit nach sich gezogen habe. Er rief deshalb alle Christen auf, die soziale Frage anzupacken, und propagierte nicht mehr nur eine sozialpatriarchale Lösung, sondern diskutierte verschiedene sozialpolitische – auch sozialkonservative – Ideen, um schliesslich einen vielfältigen Massnahmenkatalog zu präsentieren. Die Forderung nach einer staatlichen Fabrikgesetzgebung war |43| dabei zentral.118 In der anschliessenden Diskussion wurden viele verschiedene Massnahmen zur Lösung der sozialen Frage erwogen; einer der anwesenden Pfarrer sagte: «Was irgendwie Gutes angestrebt werde durch Krankenkasse, Sparkasse, Hülfsvereine u. a., sei von Allen möglichst zu unterstützen und zu befördern.»119 Andere Pfarrer forderten wie Becker vehement die Einführung eines Fabrikgesetzes. Wurde in früheren Referaten der Predigergesellschaft meist die Sünde als Ursache der sozialen Frage angesehen, so bemerkte nun ein Votant in der Diskussion: «Die sociale Frage existiert, und da kann Niemand etwas dafür und dagegen. Sie ist das Kind der Dampfmaschine, der Kartoffel und des organisierten Credites.»120 Am Ende der differenzierten Diskussion wurden die Ursachen der sozialen Frage und ihre Lösung jedoch wiederum in sozialpatriarchaler Tradition lediglich in einer Verbesserung der Moral gesehen. So wurde beschlossen, die Bundesversammlung aufzufordern, gesetzliche Bestimmungen zur Beseitigung der Ehehindernisse und für eine würdige Sonntagsfeier zu erlassen. Die diskutierten sozialpolitischen Vorschläge zur Einführung eines Fabrikgesetzes auf Bundesebene wurden hingegen von einer Mehrheit der Pfarrer nicht unterstützt und deshalb nicht an die Bundesversammlung gesandt.121

      In den folgenden Jahren thematisierte die Predigerschaft die soziale Frage nur noch am Rande in den beiden Versammlungen der Jahre 1874 und 1879.122

      Der Blick auf die schweizerische Predigergesellschaft verdeutlicht, dass sich die Pfarrer in ihren Versammlungen regelmässig und engagiert mit der sozialen Frage befassten. Rudolf Liechtenhan schreibt zusammenfassend über |44| die Auseinandersetzung der Predigergesellschaft mit der sozialen Frage: «Unser Überblick hat gezeigt, dass es an den Tagungen der Predigergesellschaft nicht an Aufmerksamkeit, Verantwortungsbewusstsein, Verständnis, Pflichtgefühl und sogar Enthusiasmus gefehlt hat.»123 Viele dieser Referate standen jedoch nach Markus Mattmüllers Einschätzung «unter apologetischen Fragestellungen»124. Die Pfarrer sahen in der sozialen Frage in erster Linie eine Bedrohung für das Christentum und kümmerten sich lediglich aus diesem Grund um eine Lösung. Betrachtet man die Lösungsansätze der schweizerischen Predigergesellschaft vor dem Hintergrund der Typologie Jähnichens, so nahm diese mehrheitlich eine sozialpatriarchale Haltung ein. In ihren Referaten appellierten die Pfarrer deshalb an die Verantwortung der Unternehmer und riefen gleichzeitig die Arbeiter zu einem moralischen Leben auf.125 Neben der sozialpatriarchalen Haltung lassen sich aber auch sozialkonservative Ansätze erkennen. Beispielsweise machten sich viele Pfarrer für eine Verschärfung der Sonntagsruhe stark und einige plädierten wie Becker vehement für die Einführung von Fabrikgesetzen und insofern für planmässiges, sozialstaatliches Handeln.

      Die Predigergesellschaft war ein loser Zusammenschluss von Schweizer Pfarrern aus den verschiedenen Kantonalkirchen und hatte als solche keine offensichtlich erkennbare politische oder institutionelle Anbindung. Gerade diese politische und institutionelle Unabhängigkeit ermöglichte ihr allerdings eine freiere Auseinandersetzung mit der sozialen Frage als dies beispielsweise in der Zürcher Synode möglich war. Aus diesem Grund waren die Referate der Predigergesellschaft auch durch eine heftige Selbstkritik gekennzeichnet und zeigten eine grosse Varietät.

      Obwohl die Unternehmer in sämtlichen Referaten der Predigergesellschaft getadelt und in die Pflicht genommen wurden, galten sie dennoch für die Lösung der sozialen Frage als Verbündete. Die Referate der Predigergesellschaft nehmen nicht direkt auf Mitglieder des SABBK Bezug. Die Pfarrer tauschten sich aber mit vereinzelten Mitgliedern des SABBK über die soziale Frage aus. So sandten sich beispielsweise der Glarner Pfarrer Becker und der |45| Basler Unternehmer Karl Sarasin126 gegenseitig ihre publizierten Schriften zu. Becker schrieb in einem Begleitbrief zu einem «Schriftchen», das er Sarasin zustellte: «Wir sind zwei Freunde, die einander etwas scheel anblicken, weil sie nicht in allen Dingen mit einander übereinstimmen. Aber doch in vielen Stücken ziehen wir an einem Seil […].»127

      Aufgeklärte bürgerliche Philanthropen gründeten 1810 die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG).128 Die SGG verfolgte das Ziel, soziale Missstände auf humanistischer, republikanistischer und christlicher Grundlage zu erfassen und Anregungen für Hilfeleistungen zu geben. Für die Auseinandersetzung mit der sozialen Frage war die SGG als sozialpolitisches Diskussionsforum eine zentrale Institution der Schweiz.129 Seit ihrer Gründung engagierten sich in der SGG unzählige evangelische und vereinzelte katholische Geistliche. Die SGG war somit eng mit dem schweizerischen Protestantismus verknüpft. Zudem waren viele Unternehmer in der SGG engagiert,

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