Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts. Marcel Köppli

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Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts - Marcel Köppli Basler und Berner Studien zur historischen Theologie (BBSHT)

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Frageschemas die «Nothstände unseres Volks­lebens»82 in einem Bericht zusammenstellen sollte und dem Regierungsrat Empfehlungen zur Linderung der «Nothstände» vorzuschlagen hatte. Dieser Bericht der Synodalkommission beanspruchte für sich, einen differenzierten Umgang mit der durch die Fabrikarbeit ausgelösten sozialen Frage zu pflegen: «Wir müssen uns hüten das Fabrikwesen für an sich und absolut schädlich zu betrachten; auch ist es ein Material, aus dem der fromme und gute Mensch Gutes und der böse Böses sich bildet […].»83 Als Ursache der Notstände bezeichnete der Bericht aber schliesslich nicht mehr nur die Moral der Arbeiter,84 sondern auch die Fabrikarbeit als solche.85 Zur Lösung der sozialen Frage wurden die Unternehmer in sozialpatriarchaler Tradition in die Pflicht genommen: «Die Fabrikherren könnten auf die Arbeiter sehr wohltätig wirken, wenn sie nicht bloss ihre Arbeit oder den Gewinn, den sie ihnen bringt, sondern auch das sittliche Wohl ihrer Untergebenen ins Auge fassten.»86 Das |37| Fabrikwesen wurde in den Vorschlägen der Synodalkommission nicht grundsätzlich kritisiert und es wurden auch keine grundsätzlichen Veränderungen gefordert. Um die «Nothstände unseres Volkslebens» zu beseitigen, unterbreitete der Kirchenrat dem Regierungsrat lediglich Vorschläge, welche die Moral betrafen. Diese Vorschläge reichten von Verminderung der Wirtschaften über Verhinderung leichtsinniger Eheschliessungen bis zu strikterer Handhabung des Sonntagspolizeigesetzes.87 Zwei Jahre später wurde an der Synode wiederum die fehlende Frömmigkeit der Arbeiter bemängelt, die Industrialisierung jedoch nicht als Grund der sozialen Frage angesehen: «Daher verhalten sich die Armen, allerdings mit einzelnen rühmlichen Ausnahmen, passiv gegen die Kirche und besuchen den Gottesdienst selten oder nie, ausser wo sie etwa als Bewohner eines Armenhauses dazu angehalten werden.»88

      Nach dieser ersten Auseinandersetzung der Synode mit der sozialen Frage wurde das Thema erst wieder 1868 aufgegriffen. Johann Ulrich Oschwald (1814–1886)89 trug eine Synodalproposition – eine Art Grundsatzrede vor der Synode – mit dem Titel «Das Christenthum und die soziale Frage» vor. Nach einem Schnelldurchgang durch die Weltgeschichte folgte ein sorgfältiges Abwägen der Vor- und Nachteile der «Grossindustrie». Die Nachteile der Industrialisierung, insbesondere diejenige des sozialen Ungleichgewichts, wollte Oschwald durch die drei Strategien Selbsthilfe, Staatshilfe und Mithilfe der Unternehmer lösen. Von den Unternehmern erhoffte er sich dabei am meisten, denn ein «grosser Theil dessen, was auf wirthschaftlichem Wege zur allmäligen Lösung des sozialen Problems zu thun ist, liegt sodann in den Händen der Arbeitgeber».90 Das anschliessende Korreferat hielt Heinrich Knus (1832–1897)91. Selbstkritisch ging er mit der Kirche ins Gericht und warnte vor einer Vereinnahmung der Kirche durch die Unternehmer: «Es herrscht bei den unteren Klassen der Verdacht, dass die Kirche in stillschweigendem Einverständnis mit der Klasse der Besitzenden das Werkzeug sei, die Massen zu zügeln, in Gehorsam, Botmässigkeit und Unterthänigkeit zu erhalten. Wenn wir als Diener der Kirche keineswegs gewillt sind, dieser Anschauung Vorschub zu leisten, im Gegentheil einmüthig und energisch dagegen protestieren, so dürfen wir nicht vergessen, dass bei der besitzenden Klasse die Neigung |38| vorhanden ist, der Kirche diese wenig beneidenswerthe Stellung eines Zuchtmeisters und Bändigers der Masse anzuweisen.»92 Die umsichtige Warnung Knus’ diskutierte die Synode jedoch nicht weiter.

      1874 wurde Oschwalds Synodalproposition von einer gewissen Haager Gesellschaft zur Vertheidigung der christlichen Religion93 als gelungene apologetische Preisschrift gekrönt und erneut publiziert.94 Im Vergleich zu seinem Vortrag vor der Zürcher Synode verstärkte Oschwald in dieser überarbeiteten Schrift die zentrale Bedeutung der Unternehmer und verwies zustimmend auf die in der Zwischenzeit erfolgten Bestrebungen der Bonner Konferenz. Oschwald führte zwar nicht konkret aus, worin die Anstrengungen der Unternehmer bestehen sollten, betonte aber an verschiedenen Stellen, was «der Grund und Boden» sei, auf dem das soziale Ungleichgewicht ins Lot gebracht werden könne: «Es ist kein anderes als die wahrhaft universelle, welterlösende Macht des Christenthums.»95 Der Antistes (Vorsteher) der Zürcher Kirche Diethelm Georg Finsler (1819–1899)96, empfahl Oschwalds gekrönte Synodalproposition zur Lektüre und illustrierte die Qualität der Schrift damit, dass ein Industrieller gleich 30 Exemplare bestellt habe, um sie zu verteilen.97 Finsler brachte also die Solidarität der Zürcher Pfarrerschaft mit den Unternehmern zum Ausdruck und sprach ihnen bei der Lösung der sozialen Frage eine zentrale Rolle zu: «Ganz besonders begrüssen wir es, wenn die Arbeitgeber selber mit freiwilligen Leistungen vorgehen […].»98 Eine staatliche Intervention zur Lösung der sozialen Frage wurde in der Zürcher Kirche nicht diskutiert.

      Während also die Zürcher Kirche anfänglich die soziale Frage lediglich moralisch als eine Folge der Sünde deutete,99 sah sie diese mit der Zeit zusehends als eine Folge der Industrialisierung. Sie sträubte sich hartnäckig gegen jegliche Vorstösse mit kommunistischem und sozialistischem Gedankengut |39| und propagierte eine sozialpatriarchale Lösung durch die moralisch-sittliche Erneuerung der Arbeiter sowie eine vermehrte Fürsorge durch die Unternehmer. Eine Sozialpolitik wurde jedoch nicht entwickelt. Zu Recht notiert Robert Barth kritisch, die Zürcher Kirche habe «weder ein eigentliches Sozialprogramm noch eine grundsätzliche Definition der kirchlichen Aufgaben in der industrialisierten Umwelt erlassen»100. Die Unternehmer – und nicht die Arbeiter! – wurden im Kampf um eine Lösung der sozialen Frage ganz selbstverständlich als Verbündete angesehen.101 Eine sozialpolitische Lösung, beispielsweise mittels eines Fabrikgesetzes, wurde im untersuchten Zeitraum in der Zürcher Kirche nicht besprochen, obwohl man damals in Zürich über ein kantonales Fabrikgesetz debattierte. Vielmehr macht es den Anschein, dass die Pfarrer jener Zeit mehr über das Fernbleiben der Arbeiter vom Sonntagsgottesdienst besorgt waren als über deren teilweise katastrophalen Arbeitsbedingungen in den Fabriken. Es muss deshalb der Schluss gezogen werden, dass sich die Zürcher Kirche nur aufgrund eines apologetischen Interesses um die soziale Frage kümmerte und erst dort ihre Stimme kritisch erhob, wo sie ihre eigene Existenz durch die Folgen der sozialen Frage bedroht sah. In Jähnichens Typologie kann das Verhalten der Zürcher Kirche lediglich der sozialpatriarchalen Haltung zugeordnet werden, auch sozialdiakonische Ansätze sind nicht zu beobachten.

      Die in der schweizerischen Predigergesellschaft organisierte evangelische Pfarrerschaft der Schweiz traf sich ab 1839 jedes Jahr für zwei Tage, um sich über aktuelle kirchliche, theologische oder soziale Themen auszutauschen.102 Diese jährlichen Treffen der Predigergesellschaft waren eine zentrale Institution für die theologische Meinungsbildung des schweizerischen Protestantismus des 19. Jahrhundert. Im Zentrum der Versammlungen standen jeweils Referate von Pfarrern, die als Diskussionsgrundlage dienten.

      Anlässlich der neunten Jahresversammlung (1847) befasste sich die schweizerische Predigergesellschaft erstmals mit der sozialen Frage. Pfarrer |40| Johann Peter Romang (1802–1875)103 sprach zum Thema «Bedeutung des Communismus».104 Das Referat, eingeteilt in die drei Abschnitte «Dar­stellung», «Würdigung» und «Folgerung», beleuchtete den Kommunismus gründlich und wies auf diejenigen Überzeugungen hin, die im Konflikt mit dem Christentum standen. Dabei betonte Romang aber, dass sich die Kirche deswegen nicht einfach ablehnend gegenüber dem Kommunismus verhalten solle, sondern die Anliegen, die dahinterstünden, ernst nehmen müsse: «Nichts ist unchristlicher, als die diesen Erscheinungen zu Grunde liegende Gesinnung, doch die Bedürfnisse sind anzuerkennen. Und die Aufgabe wäre, durch Herstellung eines wahrhaft christlichen Zustandes diese hässliche Karikierung der christlichen Liebesgemeinschaft zu verdrängen.»105 Ähnlich wie Waser, der in der Zürcher Kirche den Pauperismus durch das Vorbild der Geistlichen überwinden wollte, schlug Romang vor, den Kommunismus durch eine überzeugende «christliche Liebesgemeinschaft» zu verdrängen. In der Predigergesellschaft wurde in der Folge immer wieder propagiert, die soziale Frage solle gelöst werden, indem die Kirche und insbesondere die Pfarrer als gute Vorbilder überzeugend auf die Arbeiter einwirkten.

      Selbstbewusst wirkt auch das Referat beim Treffen der Predigergesellschaft von 1853. Heinrich Hirzel (1818–1871)106 sprach im damals bereits stark industrialisierten Glarus zum Thema «Ueber die Wechselwirkung zwischen der protestantischen Kirche und dem sozial-bürgerlichen Leben mit besonderer Rücksicht auf die Fabrikindustrie».107 Einige Jahrzehnte vor Max Weber und Ernst Troeltsch stellte Hirzel stolz eine Verbindung zwischen

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