Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts. Marcel Köppli

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Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts - Marcel Köppli Basler und Berner Studien zur historischen Theologie (BBSHT)

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sozialkonservative Haltung an.40 Diese sei im Anschluss an die Reichsgründung entwickelt und mit dem Begriff «Kathedersozialismus» bezeichnet worden. Wichtigster Vertreter dieser Position sei der Berliner Nationalökonom Adolph Wagner (1835–1917).41 |27| Die sozialkonservative Haltung kennzeichnet Jähnichen mit folgenden Worten: «Als der entscheidende, über das auf freiwilliger Basis organisierte Handeln der Inneren Mission hinausgehende Schritt dieses Typs des sozialen ­Protestantismus ist das Bemühen um planmässiges sozialstaatliches Handeln zu nennen.»42 Der Staat solle nicht mehr nur als Macht- und Kulturstaat, sondern auch als Sozialstaat verstanden werden, der sich zugunsten der sozial Schwächeren einsetzt. Ziel ist deshalb der «Aufbau von sozialstaatliche[n] Sicherungssysteme[n], die Entwicklung eines sozialen Steuerrechts, die Ausweitung des gesetzlichen Arbeitsschutzes sowie der Aufbau öffentlich-­recht­­licher Interessenvertretungsorgane der Arbeiterschaft»43. Der sozialkonser­vativen Haltung ordnet Jähnichen auch den Juristen Theodor Lohmann (1831–1905)44, den Pfarrer Rudolf Todt (1838–1887)45 und den Hofprediger in Berlin, Adolf Stoecker (1835–1909)46 zu.

      Die vierte Haltung sieht Jähnichen im sozialliberalen Protestantismus, der sich um den 1880 gegründeten Evangelisch-sozialen Kongress47 heraus­bildete.48 Wichtigster Vertreter des sozialliberalen Protestantismus sei Friedrich Naumann (1860–1919). Die sozialliberale Haltung versteht er als Kor­rektur zu der «Staatszentrierung des sozialkonservativen Protestantismus», sie sei skeptisch gegenüber allen «Versuchen und einer direkten kirchlichen Einwirkung auf soziale Problemlagen oder gar einer Rechristianisierung der Gesellschaft».49 Die sozialliberale Haltung sei zudem getragen von einer positiven Einstellung zur Wirtschaft: «Wirtschaftspolitisch würdigten die sozial­liberalen Protestanten die Effizienzsteigerung kapitalistischen Wirt­schaf­tens und grenzten sich entschieden gegen sozial-romantische, gegen ­einseitig staats­zentrierte und insbesondere gegen sozialistische Gesell­schaftskonzep­tionen ab.»50 Ziel sei eine «Transformation des Kapitals als einer einseitigen Herrschaftsordnung» in eine «‹Wirtschaftsdemokratie› mit weitreichenden |28| Par­tizipationsrechten der Arbeitnehmerschaft und einer Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen».51 Die sozialliberale Haltung ziele somit auf eine «Ethisierung des Wirtschaftslebens», dadurch hoffe man die «Effizienzgewinne des Kapitalismus mit sozialpolitischer Verantwortung» auszugleichen.52

      Selbstverständlich war die Schweiz von den weiter oben genannten Voraussetzungen, Ursachen und Auswirkungen der sozialen Frage nicht aus­genommen.53 Die Schweiz des 19. Jahrhunderts war ebenfalls durch In­dus­trialisierung, Bevölkerungswachstum und Auflösung der Stände und Zunft­ord­nungen geprägt. Doch die Voraussetzungen und Ursachen, die in der Schweiz zur sozialen Frage geführt haben, zeichnen sich durch spezifische Kennzeichen aus, auf die im Folgenden eingegangen werden soll.

      Die entstehende Industrie der Schweiz war in hohem Mass geprägt durch die Rohstoffarmut und die Distanz der Schweiz zu Handelswegen mit günstigen Produkten.54 In der Schweiz gab es deshalb keine nennenswerte Schwerindustrie, |29| die Industrie musste sich auf die maschinelle Weiterverarbeitung eingekaufter Rohstoffe konzentrieren.

      Ein weiteres Charakteristikum der Industrie in der Schweiz war die dezentrale Industrialisierung der vorwiegend ländlichen Gebiete.55 Die Rohstoffarmut und die damit einhergehende Spezialisierung auf die Weiterverarbeitung der Rohstoffe brachten es mit sich, dass sich die Industrien entlang von Flüssen in ländlichen Gebieten ansiedelten, um so die Wasserkraft zu nutzen. Die dezentrale Industrialisierung ermöglichte es den Menschen, in ihren angestammten Orten zu bleiben. Dies hatte den Vorteil, dass die Arbeiter neben dem Fabriklohn meist noch ein zweites Einkommen, ein sogenanntes Subsidiäreinkommen, in der Landwirtschaft hatten und somit nicht ausschliesslich von der wirtschaftlichen Konjunktur der Industrie abhängig waren. Durch diesen zusätzlichen Erwerb und die Beheimatung in den dörflichen Strukturen empfanden sich die Arbeiter in der Schweiz nicht als Proletarier, sondern als Kleinbürger.56 Aus diesem Grund erfolgten die Urbanisierung und die immense Ansammlung von Arbeitern auf kleinstem Raum in der Schweiz nur in abgeschwächter Form und es bildete sich kein eigentliches Massenproletariat.57 Weil sowohl die Arbeiter als auch die Unternehmer – trotz der fortschreitenden Industrialisierung an vielen Orten der Schweiz – weiterhin in die ländliche Sozialstruktur eingebunden waren, unterblieb eine Polarisierung der beiden Gruppen, wie sie beispielsweise in Frankreich oder Deutschland zu beobachten war, weitgehend.

      Ausserdem kennzeichnete die Schweiz ein relativ hohes Bildungsniveau. Um konkurrenzfähig zu sein, war die rohstoffarme Schweiz nämlich gezwungen, ihren Wettbewerbsnachteil durch Spezialisierung der Arbeit, Erfindergeist und konsequente Rationalisierung zu kompensieren.58 Dieses Bildungsniveau ermöglichte der Industrie den Einsatz qualifizierter Arbeitskräfte, was für die Spezialisierung der Arbeit eine wichtige Voraussetzung war.59

      Gesellschaftspolitisch charakterisierte die Schweiz ein früh demokratisiertes Staatswesen. Durch die radikalen und demokratischen Bewegungen sowie die Bundesverfassung von 1848 waren die Volksrechte bereits früh stark |30| entwickelt. Die Schweizer Arbeiter hatten daher nicht nur vielerorts einen bescheidenen Bodenbesitz, sondern besassen auch weitgehend demokratische Rechte.60 Aus diesem Grund entstanden in der Schweiz Arbeiterorganisationen erst vergleichsweise spät, um 1870. Da die soziale Frage jedoch bereits in den 1830er Jahren als Problem erkannt wurde, folgert Markus Mattmüller «dass die nichtsozialistischen Kreise eine Möglichkeit zur Besprechung der sozialen Frage und zu Lösungsversuchen hatten, bevor die Arbeiterbewegung selbst einsetzte. In diesem Zeitraum traten die ersten Bemühungen kirchlicher Kreise um die soziale Frage auf.»61

      Ein weiteres, diesmal politisches Kennzeichen war schliesslich der stark ausgeprägte Föderalismus der Schweiz.62 Die einzelnen Kantone der Eidgenossenschaft entwickelten bezüglich der sozialen Frage sehr unterschiedliche und voneinander unabhängige politische Umgangsformen, ein weiterer Grund, weshalb eine gesamtschweizerische Polarisierung der Arbeiter und Unternehmer weitgehend unterblieb. Im Vergleich zum umliegenden Europa unterschied sich die Schweiz politisch jedoch nicht nur durch den ausgeprägten Föderalismus, sondern auch durch die unterschiedliche Machtstellung der Konservativen. Der aufstrebende Bundesstaat der Schweiz war vom Radikalismus bestimmt, die Konservativen gerieten deshalb zunehmend in die Minderheit und Opposition.

      Ein weiterer zentraler Aspekt bei der Betrachtung der sozialen Frage in der Schweiz ist die Entwicklung der Fabrikgesetzgebung, die bis zur Bundesverfassung von 1874 in der Kompetenz der Kantone lag. Aufgrund der bereits angesprochenen dezentralen und föderalistischen politischen Organisation der Schweiz lagen die Anfänge der Arbeiterschutzgesetzgebung in den einzelnen Kantonen. So war auch die Entwicklung der Fabrikgesetzgebung durch den ausgeprägten Föderalismus gekennzeichnet und markierte den Anfang des modernen, schweizerischen Wohlfahrtsstaates.63 Zusätzlich führte der unterschiedliche Industrialisierungsgrad der einzelnen Kantone zu sehr unterschiedlichen |31| Versuchen, die Fabrikarbeit zu regulieren. Die Anfänge dieser Versuche liegen im beginnenden 19. Jahrhundert und betrafen meist die Kinderarbeit. In der Fabrikgesetzgebung spielte der stark industrialisierte und auch politisch weitgehend demokratisierte Kanton Glarus eine Pionierrolle.64 Das «Gesetz über das Arbeiten in Spinnereien» (1848) sowie das «Gesetz über die Verwendung schulpflichtiger Kinder in industriellen Etablissements» (1856) verboten die Fabrikarbeit für schulpflichtige Kinder und setzten eine Maximaldauer eines Arbeitstages fest. 1858 wurde schliesslich in den Fabriken die Arbeit an Sonn- und allgemeinen Feiertagen verboten. Pfarrer Bernhard Becker (1819–1879)65 spielte in der öffentlichen Diskussion dieser Gesetze eine zentrale Rolle, wobei er sich jeweils für eine arbeiterfreundliche Regelung engagierte. In der Glarner Landsgemeinde von 1864 wurde schliesslich demokratisch – gegen den Willen der Kantonsregierung – eine allgemeine Normierung der Arbeitszeit auf 12 Stunden und ein Verbot der Nachtarbeit angenommen. Dieses Glarner Fabrikgesetz war ein Meilenstein in der schweizerischen Sozialpolitik. Die direkte Demokratie prägte damit die soziale Gesetzgebung wesentlich. 1872 wurde schliesslich die Länge eines Normalarbeitstages auf 11 Stunden reduziert. Viele andere Kantone, wie beispielsweise Aargau,

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