Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts. Marcel Köppli

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Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts - Marcel Köppli Basler und Berner Studien zur historischen Theologie (BBSHT)

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regelmässig mit den unterschiedlichsten politischen und sozialen Themen, so auch mit der sozialen Frage. Die frühesten Auseinandersetzungen mit der sozialen Frage fanden jedoch in den lokalen und kantonalen Gesellschaften der SGG statt, so |46| zum Beispiel in der Gesellschaft zur Beförderung des Guten und Gemeinnützigen (GGG) in Basel.131 Bereits 1841 befasste sich die GGG in einer Kommission mit der sozialen Frage und publizierte 1843 ihre Ergebnisse unter folgendem Titel: «Gutachten der von der Baslerischen Abtheilung der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft aufgeteilten Kommission über die Frage betreffend die Fabrikarbeiter-Verhältnisse»132. Das «Gutachten» gibt einen informativen Einblick in die bereits Anfang der 1850er Jahre in diversen Industriezweigen in und um Basel bestehenden Einrichtungen zur Linderung der sozialen Frage, wie beispielsweise Kranken- und Begräbniskassen, Sparkassen und Kleinkinderschulen. Im Gegensatz zur Zürcher Kirche oder der schweizerischen Predigergesellschaft hatte die SGG nicht den Anspruch, die soziale Frage theologisch zu deuten. Sie versuchte lediglich, die sozialen Verhältnisse nach dem Zusammenhang von Ursache und Wirkung zu befragen und Verbesserungsvorschläge zu entwickeln. Insofern wandte die SGG als eine der ersten Institutionen der Schweiz sozialstatistische Methoden an.133 Unter den Verbesserungsvorschlägen wurde bereits sehr früh die Einführung obligatorischer Krankenkassen und staatlicher Fabrikgesetzgebung diskutiert, wobei aber meist vor staatsinterventionistischen Lösungen gewarnt und die Freiwilligkeit der Initiative favorisiert wurde.

      Nach einer ersten Beschäftigung auf kantonaler und lokaler Ebene, wie beispielsweise der GGG in Basel, begann sich Mitte der 1860er Jahre dann die SGG auf gesamtschweizerischer Ebene mit der sozialen Frage zu befassen. 1864 plädierte der als wirtschaftsliberal geltende Pfarrer Johann Ludwig Spyri (1822–1895)134 für eine maximale Arbeitszeit von 12 Stunden in den Fabriken.135 1868 hielt Bundesrat Friedrich Frey-Herosé (1801–1873)136 in Aarau ein |47| Referat über die soziale Frage und deren Lösung.137 Im Anschluss an dieses Referat bildete die SGG eine «Commission für die Arbeiterfrage».138 Sechs der elf Mitglieder dieser Kommission waren später auch Mitglieder des SABBK.139 Die «Arbeiter-Commission» verfolgte folgende Ziele: «1) die Kenntnisse der Zustände der Arbeiter zu verbreiten und auf die mit der Industrie verbundenen Übelstände zum Zwecke ihrer Abhülfe aufmerksam zu machen; 2) alle Versuche zur Besserung der Lage der Arbeiter sorgfältig zu prüfen und den ganzen Verlauf der socialen Bewegung fortgesetzt zu beobachten; 3) die gesammelten Beobachtungen und Materialien durch Mittheilungen an die Oeffentlichkeit und durch Anregung von Reformen und nützlichen Einrichtungen nutzbar zu machen.»140 Die Kommission berichtete regelmässig und ausführlich von ihren Erkundungen und Überzeugungen.141 Dabei favorisierte sie zur Lösung der sozialen Frage die sozialpatriarchale Haltung, indem sie vor allem die Stärkung der betrieblichen Wohlfahrt propagierte. In der SGG «erodierte» seit den 1870er Jahren der «sozialpolitische Konsens» jedoch zunehmend und es bildeten sich zwei Lager. Die Mitglieder der Kommission kamen dabei mehrheitlich aus dem wirtschaftsliberalen, staatskritischen und unternehmerischen und nicht aus dem sozialreformerischen Flügel.142 Als |48| eine der ersten Institutionen untersuchte die SGG jedoch auch akribisch die Einkommensverhältnisse der Arbeiter in verschiedenen Gemeinden der Schweiz und wies darauf hin, dass die Arbeiter meist nicht aus moralischen Gründen, sondern aufgrund des zu knappen Verdienstes zu wenig Geld hatten, um ihre Existenz zu bestreiten.

      Die SGG, im Speziellen die «Arbeiter-Commission», war also diejenige Institution, in der protestantische Pfarrer und protestantische Unternehmer gemeinsam die soziale Frage analysierten, miteinander Lösungsansätze untersuchten und präsentierten. Eine theologische Deutung der sozialen Frage blieb dabei jedoch aus. Vielmehr analysierte die SGG die sozialen Verhältnisse nach sozialstatistischen Methoden und diskutierte diverse Lösungsansätze, wobei der Fokus auf dem patriarchalen Ansatz lag. Ähnlich wie in der Inneren Mission baute die SGG aber auch sozialdiakonische Arbeitsfelder auf, so schlug sie beispielsweise betriebliche Wohlfahrt oder praktische Liebestätigkeit in Vereinen vor. Gemäss Jähnichens Typologie vertrat die SGG sowohl die sozialpatriarchale wie auch die sozialdiakonische Haltung. Im Gegensatz zur Zürcher Kirche und zur Predigergesellschaft rezipierte die SGG auch die damalige theoretische Diskussion über die soziale Frage sehr genau. Aufgrund ihres optimistischen Fortschrittsglaubens und ihrer grossen Wertschätzung der Industrialisierung sah die SGG in der sozialen Frage lediglich eine Übergangserscheinung, die sich mit der Zeit von selbst lösen würde. Insofern zeichneten sich in der SGG bereits sozialliberale Ansätze ab.143

      Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der schweizerische Protestantismus zunehmend von der Herausbildung kirchlicher Parteien, dem sogenannten Richtungswesen, bestimmt.144 Selbst wenn gelegentlich die Hoffnung |49| geäussert wurde, die soziale Frage könne die zerstrittenen Richtungen einen,145 so widerspiegelten sich die theologischen Richtungskämpfe dennoch auch in dieser Diskussion.146 Die Dominanz dieser Richtungskämpfe führte dazu, dass die Auseinandersetzung mit der sozialen Frage im Hintergrund blieb oder diese gar für die Richtungskämpfe instrumentalisiert wurde.147 Die Behandlung der sozialen Frage verlagerte sich deshalb in die theologischen Richtungen hinein und führte so zur Ausgestaltung unterschiedlicher sozialpolitischer Haltungen innerhalb des schweizerischen Protestantismus. Diese zunehmende Differenzierung lässt sich besonders anschaulich in den kirchlichen Zeitschriften beobachten.148 Bis Mitte der 1860er Jahre wurde in sämtlichen Zeitschriften auf die Wichtigkeit der sozialen Frage hingewiesen und die Untätigkeit der Kirche beklagt, konkrete Lösungsansätze wurden jedoch noch keine präsentiert.149 Ende der 1860er Jahre und Anfang der 1870er Jahre begannen |50| die theologischen Richtungen dann ihre je eigenen sozialpolitischen Ideen zu propagieren. Das Richtungswesen führte so bei den drei theologischen Richtungen – den Reformern, den Vermittlern und den Bekenntnistreuen –, zu einer unterschiedlichen Behandlung der sozialen Frage, wie im Folgenden dargestellt wird.

      Die Reformer bezeichneten ihre Theologie auch als «freisinnige, freie oder spekulative Theologie».150 Sie kämpften gegen den «Dogmatismus» in der Kirche und für eine Anpassung von Bekenntnis, Liturgie und Autorität der Heiligen Schrift ans Zeitverständnis.151

      Das Aufkommen der sozialen Frage deuteten die Zeitschriften der Reformer nicht moralisch, sondern als logische Folge der industriellen Entwicklung. Ein Artikel von 1866 beurteilte beispielsweise die industrielle Entwicklung äusserst positiv, die sozialen Probleme wurden lediglich als Übergangsphänomene angesehen: «Er [der Mensch] muss den industriellen Fortschritt der Zeit, statt bekämpfen, sich dienstbar machen, selbst ausbeuten.»152 Die Reformer benannten aber auch die negativen Folgen des industriellen Fortschrittes, welche die sozialen Probleme verursachten: «Der Uebelstand entspringt aus der Natur der neuern Industrie selbst.»153 Zur Lösung der sozialen Frage warnten sie anfänglich vor einem Staatsinterventionismus und favorisierten stattdessen die Selbsthilfe der Arbeiter.154 Die Armut deuteten die Reformer bereits sehr früh nicht mehr moralistisch und in sozialpatriarchaler Tradition als Folge der Sünde. Ebenso wenig erachteten sie Arbeit und Sparsamkeit als erfolgreiches Heilmittel dagegen: «Es gelingt bei Weitem nicht Allen, die arbeiten und sparen, reich zu werden und hinwiederum ist auch der vorhandene Reichthum nicht nur ein Produkt der Arbeit und der Sparsamkeit, vielmehr spielen Glück und Unglück dabei eine sehr grosse Rolle […].»155 Mit der Zeit |51| fand bei den Reformern jedoch ein Gesinnungswandel statt. Die soziale Frage wurde nicht mehr bloss als Übergangsphänomen angesehen, das mit dem Fortschritt automatisch verschwinden würde. Immer mehr begannen die Reformer in der Diskussion, beispielsweise auch bei der Revision der Bundesverfassung, ein eidgenössisches Fabrikgesetz zur Lösung der sozialen Frage zu begrüssen: «Vergesst, dass wir verschiedenen Kantonen, verschiedenen religiösen Parteien angehören, und ergreift die schöne Gelegenheit einer be­­vorstehenden Bundesrevision, vom Bund alles das zu verlangen, was zwar noch lange nicht die Lösung der sozialen Frage ist, wohl aber mit ein Grundstein zum gesunden, starken, kräftigen Bau, an dessen Aufrichtung alle warmen Herzen im eigenen Interesse des Arbeiterstandes arbeiten.»156 In ihrem Einsatz für ein planmässiges sozialstaatliches Handeln lassen sich bei den Reformern gemäss Jähnichens Typologie Ansätze einer sozialkonservativen Haltung ausmachen. Die sozialpatriarchale

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