Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts. Marcel Köppli
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts - Marcel Köppli страница 11
![Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts - Marcel Köppli Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts - Marcel Köppli Basler und Berner Studien zur historischen Theologie (BBSHT)](/cover_pre938451.jpg)
Nach einer ersten Beschäftigung auf kantonaler und lokaler Ebene, wie beispielsweise der GGG in Basel, begann sich Mitte der 1860er Jahre dann die SGG auf gesamtschweizerischer Ebene mit der sozialen Frage zu befassen. 1864 plädierte der als wirtschaftsliberal geltende Pfarrer Johann Ludwig Spyri (1822–1895)134 für eine maximale Arbeitszeit von 12 Stunden in den Fabriken.135 1868 hielt Bundesrat Friedrich Frey-Herosé (1801–1873)136 in Aarau ein |47| Referat über die soziale Frage und deren Lösung.137 Im Anschluss an dieses Referat bildete die SGG eine «Commission für die Arbeiterfrage».138 Sechs der elf Mitglieder dieser Kommission waren später auch Mitglieder des SABBK.139 Die «Arbeiter-Commission» verfolgte folgende Ziele: «1) die Kenntnisse der Zustände der Arbeiter zu verbreiten und auf die mit der Industrie verbundenen Übelstände zum Zwecke ihrer Abhülfe aufmerksam zu machen; 2) alle Versuche zur Besserung der Lage der Arbeiter sorgfältig zu prüfen und den ganzen Verlauf der socialen Bewegung fortgesetzt zu beobachten; 3) die gesammelten Beobachtungen und Materialien durch Mittheilungen an die Oeffentlichkeit und durch Anregung von Reformen und nützlichen Einrichtungen nutzbar zu machen.»140 Die Kommission berichtete regelmässig und ausführlich von ihren Erkundungen und Überzeugungen.141 Dabei favorisierte sie zur Lösung der sozialen Frage die sozialpatriarchale Haltung, indem sie vor allem die Stärkung der betrieblichen Wohlfahrt propagierte. In der SGG «erodierte» seit den 1870er Jahren der «sozialpolitische Konsens» jedoch zunehmend und es bildeten sich zwei Lager. Die Mitglieder der Kommission kamen dabei mehrheitlich aus dem wirtschaftsliberalen, staatskritischen und unternehmerischen und nicht aus dem sozialreformerischen Flügel.142 Als |48| eine der ersten Institutionen untersuchte die SGG jedoch auch akribisch die Einkommensverhältnisse der Arbeiter in verschiedenen Gemeinden der Schweiz und wies darauf hin, dass die Arbeiter meist nicht aus moralischen Gründen, sondern aufgrund des zu knappen Verdienstes zu wenig Geld hatten, um ihre Existenz zu bestreiten.
Die SGG, im Speziellen die «Arbeiter-Commission», war also diejenige Institution, in der protestantische Pfarrer und protestantische Unternehmer gemeinsam die soziale Frage analysierten, miteinander Lösungsansätze untersuchten und präsentierten. Eine theologische Deutung der sozialen Frage blieb dabei jedoch aus. Vielmehr analysierte die SGG die sozialen Verhältnisse nach sozialstatistischen Methoden und diskutierte diverse Lösungsansätze, wobei der Fokus auf dem patriarchalen Ansatz lag. Ähnlich wie in der Inneren Mission baute die SGG aber auch sozialdiakonische Arbeitsfelder auf, so schlug sie beispielsweise betriebliche Wohlfahrt oder praktische Liebestätigkeit in Vereinen vor. Gemäss Jähnichens Typologie vertrat die SGG sowohl die sozialpatriarchale wie auch die sozialdiakonische Haltung. Im Gegensatz zur Zürcher Kirche und zur Predigergesellschaft rezipierte die SGG auch die damalige theoretische Diskussion über die soziale Frage sehr genau. Aufgrund ihres optimistischen Fortschrittsglaubens und ihrer grossen Wertschätzung der Industrialisierung sah die SGG in der sozialen Frage lediglich eine Übergangserscheinung, die sich mit der Zeit von selbst lösen würde. Insofern zeichneten sich in der SGG bereits sozialliberale Ansätze ab.143
2.5.4 Theologische Richtungen (Reformer, Bekenntnistreue, Vermittler)
Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der schweizerische Protestantismus zunehmend von der Herausbildung kirchlicher Parteien, dem sogenannten Richtungswesen, bestimmt.144 Selbst wenn gelegentlich die Hoffnung |49| geäussert wurde, die soziale Frage könne die zerstrittenen Richtungen einen,145 so widerspiegelten sich die theologischen Richtungskämpfe dennoch auch in dieser Diskussion.146 Die Dominanz dieser Richtungskämpfe führte dazu, dass die Auseinandersetzung mit der sozialen Frage im Hintergrund blieb oder diese gar für die Richtungskämpfe instrumentalisiert wurde.147 Die Behandlung der sozialen Frage verlagerte sich deshalb in die theologischen Richtungen hinein und führte so zur Ausgestaltung unterschiedlicher sozialpolitischer Haltungen innerhalb des schweizerischen Protestantismus. Diese zunehmende Differenzierung lässt sich besonders anschaulich in den kirchlichen Zeitschriften beobachten.148 Bis Mitte der 1860er Jahre wurde in sämtlichen Zeitschriften auf die Wichtigkeit der sozialen Frage hingewiesen und die Untätigkeit der Kirche beklagt, konkrete Lösungsansätze wurden jedoch noch keine präsentiert.149 Ende der 1860er Jahre und Anfang der 1870er Jahre begannen |50| die theologischen Richtungen dann ihre je eigenen sozialpolitischen Ideen zu propagieren. Das Richtungswesen führte so bei den drei theologischen Richtungen – den Reformern, den Vermittlern und den Bekenntnistreuen –, zu einer unterschiedlichen Behandlung der sozialen Frage, wie im Folgenden dargestellt wird.
a) Reformer
Die Reformer bezeichneten ihre Theologie auch als «freisinnige, freie oder spekulative Theologie».150 Sie kämpften gegen den «Dogmatismus» in der Kirche und für eine Anpassung von Bekenntnis, Liturgie und Autorität der Heiligen Schrift ans Zeitverständnis.151
Das Aufkommen der sozialen Frage deuteten die Zeitschriften der Reformer nicht moralisch, sondern als logische Folge der industriellen Entwicklung. Ein Artikel von 1866 beurteilte beispielsweise die industrielle Entwicklung äusserst positiv, die sozialen Probleme wurden lediglich als Übergangsphänomene angesehen: «Er [der Mensch] muss den industriellen Fortschritt der Zeit, statt bekämpfen, sich dienstbar machen, selbst ausbeuten.»152 Die Reformer benannten aber auch die negativen Folgen des industriellen Fortschrittes, welche die sozialen Probleme verursachten: «Der Uebelstand entspringt aus der Natur der neuern Industrie selbst.»153 Zur Lösung der sozialen Frage warnten sie anfänglich vor einem Staatsinterventionismus und favorisierten stattdessen die Selbsthilfe der Arbeiter.154 Die Armut deuteten die Reformer bereits sehr früh nicht mehr moralistisch und in sozialpatriarchaler Tradition als Folge der Sünde. Ebenso wenig erachteten sie Arbeit und Sparsamkeit als erfolgreiches Heilmittel dagegen: «Es gelingt bei Weitem nicht Allen, die arbeiten und sparen, reich zu werden und hinwiederum ist auch der vorhandene Reichthum nicht nur ein Produkt der Arbeit und der Sparsamkeit, vielmehr spielen Glück und Unglück dabei eine sehr grosse Rolle […].»155 Mit der Zeit |51| fand bei den Reformern jedoch ein Gesinnungswandel statt. Die soziale Frage wurde nicht mehr bloss als Übergangsphänomen angesehen, das mit dem Fortschritt automatisch verschwinden würde. Immer mehr begannen die Reformer in der Diskussion, beispielsweise auch bei der Revision der Bundesverfassung, ein eidgenössisches Fabrikgesetz zur Lösung der sozialen Frage zu begrüssen: «Vergesst, dass wir verschiedenen Kantonen, verschiedenen religiösen Parteien angehören, und ergreift die schöne Gelegenheit einer bevorstehenden Bundesrevision, vom Bund alles das zu verlangen, was zwar noch lange nicht die Lösung der sozialen Frage ist, wohl aber mit ein Grundstein zum gesunden, starken, kräftigen Bau, an dessen Aufrichtung alle warmen Herzen im eigenen Interesse des Arbeiterstandes arbeiten.»156 In ihrem Einsatz für ein planmässiges sozialstaatliches Handeln lassen sich bei den Reformern gemäss Jähnichens Typologie Ansätze einer sozialkonservativen Haltung ausmachen. Die sozialpatriarchale