Das Weltkapital. Robert Kurz
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Aber tatsächlich handelte es sich bei dieser Einschätzung eher um eine Extrapolation, um eine logische Vorwegnahme zukünftiger Entwicklungen in einem ganz anderen, Lenins Zeit noch unbekannten Zusammenhang. Damals floß der erst beginnende Kapitalexport in der Tat größtenteils in die jeweils eigenen Kolonien, wo aber alle Bedingungen für eine Kapitalakkumulation in großem Ausmaß fehlten. Die Kolonien bildeten ja ökonomisch, soweit nicht in vormodernen agrargesellschaftlichen Strukturen befangen, nur eine Art Wurmfortsatz der imperialen Nationalökonomien. Im Verhältnis zu den Gesamtinvestitionen blieben die Kapitalexporte in die Kolonien marginal (nur in Großbritannien nahmen sie einen relativ höheren Prozentsatz als bei den übrigen Großmächten ein).
Dort aber, wo Kapitalexport als Konsequenz gesteigerten Warenexports der kapitalistischen Logik besser entsprochen hätte, also im Verhältnis der kapitalistisch fortgeschrittenen Nationalökonomien untereinander, konnte Lenin ihn sich bezeichnenderweise nur als Folge von militärischen Annexionen vorstellen, somit als bloße Einverleibung gewissermaßen eines Brockens fremder Nationalökonomie in die eigene. Nur im Gefolge militärischer Eroberungen mit ungeheurer Anspannung aller gesellschaftlichen Kräfte war jedoch kein betriebswirtschaftlicher Kapitalexport im großen Maßstab auf den Weg zu bringen; und es wäre dann ja bei schlichter Einverleibung von Gebieten unter der jeweils eigenen nationalstaatlichen Fuchtel auch logisch gar kein »Export« mehr gewesen.
Das zeigt, wie sehr nicht nur das Denken, sondern auch die realen Verhältnisse noch in der nationalökonomischen Zentrierung befangen waren. Ein Indiz ist die ganze damalige Debatte eher im umgekehrten Sinne: dass der Kapitalexport als Phänomen durch seine bloße Realität selbst im kleinsten Maßstab bereits theoretisch Furore machen konnte, ist mehr ein Hinweis auf sein fast völliges Fehlen im 19. Jahrhundert als auf seine bereits am Vorabend des Ersten Weltkriegs erreichte Durchschlagskraft.
Zur wirklich neuen Qualität wurde der Kapitalexport in Wahrheit erst nach dem Zweiten Weltkrieg, beginnend mit dem Nachkriegsboom seit den fünfziger Jahren. Ökonomisch war es die ebenfalls erst in diese Zeit fallende weltweite Durchsetzung der zweiten industriellen Revolution (fordistische Industrien, Automobilmachung der Gesellschaft, Kultur-und Freizeitindustrie etc.), die durch eine neue Qualität der Produktivkraftentwicklung von innen heraus den Druck auf die nationalökonomischen Grenzen erhöhte, zugleich supranationale Strukturen hervorbrachte und auf der Ebene des gesellschaftlichen Abspaltungsverhältnisses die Erwerbstätigkeit der Frauen in der Sphäre der »abstrakten Arbeit« sprunghaft ausdehnte. Politisch war es die Pax Americana, die im Unterschied zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Bedingung dafür schuf, dass erstmals im größeren (und stetig wachsenden) Ausmaß ein Kapitalexport zwischen den nunmehr politisch nur noch gedämpft und militärisch gar nicht mehr rivalisierenden kapitalistischen Zentralmächten stattfinden konnte.
Natürlich hatte es vereinzelt auch schon vor dem Zweiten Weltkrieg innerkapitalistischen Kapitalexport zwischen den großen Industriestaaten gegeben; aber der Umfang war so gering und die Ursachen wie die Auswirkungen daher so wenig Gegenstand der Forschung, dass »die Darstellung für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg auf unsystematischem und anekdotischem Material beruht« (Vernon 1979, 53). Erst mit der einsetzenden Flut des Kapitalexports auf Grundlage des Nachkriegsbooms und im politischen Rahmen der Pax Americana entwickelte sich auch rasch eine Debatte über »Die Internationalisierung des Kapitals« (Deubner u.a., 1979), die nicht mehr im alten Sinne vom politisch-militärischen Kampf um die nationalstaatlich-imperiale »Neuaufteilung der Welt« bestimmt war, sondern von den inneren ökonomischen Prozessen des Kapitals selbst, das über die Grenzen der Nationalökonomie und damit auch des Nationalstaats hinauszuwachsen begann (insofern gerade das Gegenteil einer vom nationalstaatlichen Imperialismus bestimmten Entwicklung).
Als zentraler und bald populärer Begriff dafür bürgerte sich seit den siebziger Jahren der Name der »Multis« ein, also der multinationalen Konzerne. Während sich der vorherige relativ geringe Kapitalexport im Verhältnis von Mutterländern und Kolonien ebenso wie im späteren Verhältnis von Industrieländern des Zentrums zu den Ländern der Dritten Welt hauptsächlich auf Rohstoffquellen und auf den Agrarsektor bezogen hatte, war der neue Kapitalexport der Multis zwischen den Industriestaaten des Zentrums selbst von vornherein auf die fortgeschrittene industrielle Produktion konzentriert. Der betriebswirtschaftliche Konkurrenzkampf um globale Marktanteile, bis dahin weitgehend vom Warensektor bestimmt, griff damit auf den Kapitalsektor über. Trotzdem übertraf die Bedeutung des Warenexports immer noch die des Kapitalexports bei weitem, auch wenn sich der Abstand rasch zu verringern begann.
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