Sternstunden der Wahrheit. Группа авторов

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Sternstunden der Wahrheit - Группа авторов

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findet sich damit ab oder kämpft aussichtslos wie einst Don Quijote.

      Eine besonders perfide Art aber haben sich die Dunkel- und Hintermänner meines bevorzugten lokalen Brötchenkonzerns ausgedacht. Sie demütigen uns nicht einfach, sondern sie zwingen uns zur Selbstdemütigung. Das geht so:

      Der Oberbäcker schraubt sich im Morgengrauen derart dämlich infantile Namen für sein leckerstes Backwerk aus den Hirnkurven, dass schon der Anblick des geschriebenen Wortes jeden Menschen, dem die Sprache nur einen Zehner-Semmel wert ist, Brechreiz hervorruft. Achtung, lieber Leser, tief einatmen: Er heißt seine Brötchen nämlich: Kraftikus, Röggelchen, Kartöffelchen, und die leckersten von allen gar – wurps – Knackfrische! Sie winseln bereits um Gnade? Genug? Genug!

      Nun schreibt der Bäcker kleine Schildchen, die er in seinen Filialen vor die Regale pappt, stellt maulfaule junge Damen mit leichtem Knick in der Optik als Verkäuferinnen ein und lässt der Tortur ihren Lauf. Anders lässt sich nicht beschreiben, was ich in meiner Bäckereifiliale täglich erlebe. Hunger und Gier nach den goldbraunen, dezent gestäubten Brötchen (»Knackfrische«) sind stark, der Ekel vor dem Wort und die Angst vor der Peinlichkeit seiner Aussprache im Beisein erwachsener Menschen ist stärker. Ich deute auf das Regal, sage: »Sechs davon«, und prompt greift die Verkäuferin die Sesambrötchen. »Nein, daneben«, stottere ich, sie packt die Laugenbrötchen. »Nein, äh, sechs Normale …« – »Wir haben keine Normalen, nur Röggelchen, Kartöffelchen, Kraftikusse, Knackfrische …« – »Genau die!« – »Also Röggelchen?« – »Nein, äh …« Mein Kopf ist kurz vor dem Platzen. »Welche denn nun, junger Mann …?« Der Silberblick der Verkäuferin schweift, betont genervt und gelangweilt, über die Gesichter der inzwischen ansehnlich gewordenen Kundenschlange und sagt: Seht her, wegen eines solchen Deppen, der nicht in der Lage ist, eine ganz gewöhnliche Bestellung aufzugeben, müssen jetzt alle warten und kommen zu spät ins Büro oder zur Talkshow mit dem Pastor Fliege. Ich versinke vor Scham.

      Zu Hause gibt’s noch eins drauf: »Wieso bringst du sechs Mohnbrötchen an, die isst doch hier kein Mensch.« Die wissen hier halt nichts von meinem glorreichen Kampf. Ich habe Hunger, aber ich habe widerstanden. Ich habe mich nicht erniedrigt. Und ich profitiere für mein weiteres Leben.

      Der weit verbreitete Selbstbewusstseins-Steigerungstrick, dass die Angst vor einer Autorität schwindet, wenn man sich diese nackt in der Sauna vorstelle, mochte bei mir noch nie so recht funktionieren, allenfalls in Kombination mit Adiletten an pilzigen Füßen. Nun aber habe ich mein persönliches Autoritätszerstörungsbild gefunden: Ich schicke eine Autorität oder hochgestellte Persönlichkeit in Gedanken zum Bäcker und lasse sie »zwei Knackfrische, ein Kraftikuss und ein Kartöffelchen« ordern. Kann man vor jemandem, der solch einen Stuss öffentlich ausspricht, Respekt haben?

      Joachim Frisch (5.8.2004)

      Es war spät, und wir waren hungrig, als wir im Hotel in Pisa ankamen. »Das wird schwierig«, meinte der Hotelangestellte, »aber bei Camillo bekommt ihr vielleicht noch etwas. Ich kenne ihn, grüßt ihn von mir, und er wird euch nicht wegschicken. Aber avanti!« Erste Straße links, dann das zweite Restaurant auf der rechten Seite, lautete die eindeutige Wegbeschreibung.

      Die Gaststätte sah nicht sonderlich Vertrauen erweckend aus. Es war eher eine Art Imbissstube mit ein paar Resopaltischen. »Es gibt nur Pizza«, sagte der Wirt zur Begrüßung. Warum nicht? Schließlich waren wir in Italien. Ob er Camillo sei, fragte ich den Wirt, und er nickte stumm. Ich solle ihn von seinem Freund an der Hotelrezeption grüßen, meinte ich und wunderte mich nicht über seinen erstaunten Blick.

      Am Nachbartisch saß ein Tonio vor einer halb vollen Dreiliterflasche Rotwein, ihm gegenüber sein Freund Marco, der seine Flasche offenbar schon leer getrunken hatte und bemüht war, nicht vom Stuhl zu rutschen. War das eine Inszenierung für Touristen, um die Klischees vom stets Rotwein trinkenden Italiener zu bestätigen? Andererseits kann man in Irland jederzeit in einen Pub gehen und glasigaugige Männer vor schwarzem Bier finden, ohne dass es inszeniert werden müsste. In den meisten Klischees steckt eben ein Körnchen Wahrheit.

      Die Pizza war tadellos, und die Halbliterkaraffe Chianti – ich hatte in Anbetracht des Nachbartischs vorsichtshalber einen kleinen Wein bestellt – war es auch. Dann kamen weitere Gäste: drei Irinnen, die offenbar mit demselben Flugzeug aus Dublin gekommen waren. Camillo fing sofort an, ihnen Komplimente zu machen. Ah, diese Italiener.

      Schließlich gab er ihnen einen Sambuca aus. Ob wir auch einen wollten, fragte er. Ich hätte lieber einen Grappa, sagte ich. Es gab aber nur Sambuca. Nach dem zweiten Schnaps schaute Camillo mich listig an und fragte: »Du willst Grappa?« Dann verschwand er aus dem Laden, ging zu seinem Auto und kam mit einer Flasche Grappa zurück. »Die hat meine Exfreundin vor vier Monaten im Auto liegen lassen«, sagte er. »Jetzt ist die Trauerzeit vorbei.« Mit diesen Worten zog er die Metalljalousie vor der Eingangstür herunter. Es wurde eine lange Nacht.

      Der Hotelangestellte vergrub bei unserer Rückkehr die Hände im Gesicht und stöhnte: »Ich sehe es euch an: Ihr seid bei Francesco gewesen, der übelsten Spelunke Pisas. Als ich sagte, ihr sollt das zweite Restaurant auf der rechten Seite nehmen, ahnte ich nicht, dass ihr diesen Laden mitzählen würdet. Gelten Schnellimbisse in Irland als Restaurants?«

      Aber der Wirt habe doch bestätigt, dass er Camillo sei und sich über die Grüße gefreut. »Ihr habt Francesco von mir gegrüßt?«, fragte der Rezeptionist entsetzt. »Wollt ihr meinen Ruf ruinieren? Hättet ihr nach dem Papst gefragt, hätte Francesco auch genickt. Schließlich will er seine Pizza verkaufen.« Die sei aber ausgezeichnet gewesen, sagte ich. Das liege am Grappa des Vergessens, entgegnete er. »Den Grappa flößt Francesco jedem fremden Gast ein, damit er sich später an nichts mehr erinnert, schon gar nicht an die Rechnung. Es war die Flasche seiner Exfreundin, stimmt’s?«

      Ralf Sotscheck (12.12.2005)

      Was ist bloß gegen Kannibalen einzuwenden? Plädoyer für eine menschlichere Küche

      Nachts, wenn ich nicht schlafen kann, wälze ich mich auf meinem Lager hin und her und frage mich: Was wird eigentlich aus Armin Meiwes, dem Kannibalen von Rotenburg? Rotenburg in Hessen übrigens, nicht das viel bekanntere Rotenburg an der Wümme in Niedersachsen. Ebenda logiert während der WM im Sommer die Nationalmannschaft von Trinidad und Tobago.

      Das Leben ist ungerecht. Das eine Rotenburg kriegt hippen Besuch aus Übersee, das andere ist für immer und ewig geschlagen mit einem ziemlich unhippen Zwischenfall. Adolf Eichmann ist in Solingen geboren, aber deswegen können die da jetzt auch nicht auf ihrer Homepage schreiben: »Der berühmteste Sohn der Stadt«.

      Der Kannibale muss ins Gefängnis, das ist klar. Aber dann? Serienkiller in den USA bekommen ja sofort lukrative Verträge, damit sie ihre Lebensgeschichte aufschreiben, bevor sie hingerichtet werden. Oder Norman Mailer kommt in die Zelle oder Michael Moore oder Susan Sontag. Die ist schon gestorben, schlechtes Beispiel. Aber ein kleiner Kannibale? Kriegt der Besuch von Maybrit Illner? Oder vom linken Weltgewissen Jürgen Elsässer?

      Vermutlich wird er ein Kochbuch schreiben, jeder schreibt heute ein Kochbuch. Es gibt ein Kochbuch mit den Henkersmahlzeitenrezepten von Todeskandidaten, geschrieben von einem ehemaligen Koch im Knast von Huntsville, Texas. Es gibt ein Schlampen-Kochbuch, ein Studenten-Kochbuch, ein Weightwatchers-Kochbuch, ein Aldi-Kochbuch und hunderte von Baby-Kochbüchern. Ein FC-Bayern-Kochbuch gibt es leider auch. Dann lieber noch ein Kannibalen-Kochbuch. Dessen Autor hat dann allerdings Mühe, einen Verlag zu finden und wird ganz oft abgelehnt, bis es dann doch bei Gräfe und Unzer erscheint. »Es war eine kontroverse Entscheidung«, wird ein Verlagssprecher

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