Sternstunden der Wahrheit. Группа авторов

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Sternstunden der Wahrheit - Группа авторов страница 17

Sternstunden der Wahrheit - Группа авторов

Скачать книгу

Portionen Sex, Drugs und Rock ‘n’ Roll kaputtmachen, wie sie vergeblich versuchen, damit ihrem sinnlosen kapitalistischen Leben einen letzten Halt zu geben, bevor sie endgültig vom Sozialismus überrollt werden. Der sowjetische Bürger las darüber in der Zeitung, beneidete die Genossen im Westen und trank seinen aidssicheren Wodka in der Küche weiter. Als der Sozialismus dann plötzlich den Geist aufgab, dachten die Russen: Na also! Jetzt werden wir uns wohl auch so toll amüsieren, genauso wie die Kollegen drüben: wilder Sex, laute Musik und teurer Alkohol an jeder Ecke, mit einem Wort – Unterhaltung pur.

      Die russischen Experten fuhren sofort nach Europa und Amerika, um alles genau zu studieren. Und schon 1990 stand im Moskauer Park für Kultur und Erholung der erste gepanzerte Striptease-Container. Für 25 Rubel konnte man dort durch das kugelsichere Glas zwei blonden Frauen zuschauen, wie sie sich langsam auszogen und langsam wieder an. Der Container hatte auch ein kleines Loch, gerade so groß, um einen Zeigefinger durchzustecken. Für einige Rubel extra näherte sich eine Stripperin dem Loch, und der Glückliche durfte mit dem Zeigefinger an ihren Brustwarzen knipsen. Immer wieder versuchten besonders schlaue Kunden, auch andere Körperteile in das Loch reinzukriegen. Für solche Fälle stand in dem Container eine Axt in der Ecke, mit der die Frauen virtuos umgehen konnten.

      Wenig später eröffneten Dutzende von Striptease-Bars und -Restaurants in der russischen Hauptstadt: Frauen in Unterwäsche und Männer in Badehosen, die alle wie Tarzan und Jane aussahen, drehten sich um Eisenstangen herum und verlangten dafür vom Publikum, dass es ihnen Dollarscheine in die Höschen stopfte. Die Russen hatten sich die süßen Wonnen des entwickelten Kapitalismus irgendwie anders vorgestellt. »Was soll dieser Scheiß?«, fragten sie ihre Unterhaltungsexperten. »Wir habe es genau wie im Westen gemacht«, argumentierten die. »Es sieht aber pissig aus«, meckerten die Russen. Die Experten wurden entlassen, und das Volk nahm die Unterhaltungsbranche selbst in die Hand.

      Seit Mitte der Neunzigerjahre entwickelt sich nun eine eigene kapitalistische Unterhaltungskultur in Russland, und das mit großem Erfolg. In der Hauptstadt wird jeden Monat ein neues Striptease-Restaurant eröffnet, und jedes Mal ist es etwas Einzigartiges, wovon der Westen nur träumen kann. Als ich letztens dort war, besuchte ich die Neueröffnung »Antikes Striptease-Restaurant Pirr« in der Nikitskaja-Straße. Zusammen mit den In-Clubs »Imperium der Leidenschaft« und »Nackter Bär« gehört diese Einrichtung zur Avantgarde der postsozialistischen Erotik. Die Haupthalle sah aus wie eine Gruft, war großzügig mit antiken Gegenständen vollgestellt und mit vielen Kerzen ausgeleuchtet. Die männliche Bedienung hatte man als Gladiatoren verkleidet, die weiblichen als Hetären. Das Personal darf sich nicht anders als nur in Reimen äußern.

      »Für unsere wertvollen Gäste erfüllen wir jede noch so verrückte Geste«, begrüßte uns eine junge Kellnerin, die eine antike Toga und Sandalen trug, als mein Freund Mischa und ich uns setzten. Mischa hatte gerade eine mehrmonatige Trunksucht hinter sich und war wieder auf wilde Abenteuer scharf. Laut Speisekarte wurden in dem antiken Striptease-Restaurant außer teurem Essen mehrere Sorten von Unterhaltung angeboten: Der Gast konnte mit Gladiatoren kämpfen oder sie am Sack kratzen, er durfte sich von den Hetären füttern lassen oder sie an den Busen fassen. »Für 15.000 Rubel extra spielt der Chefkoch für Sie Akkordeon«, stand noch auf der Speisekarte. Der Chefkoch kam auch zu uns an den Tisch. Er sah aus wie ein Doppelgänger von Zeus, trotzdem hatten wir Zweifel an seiner musikalischen Begabung – 15.000 Rubel ist eine Menge Geld: fast 1.500 Mark. Also bestellten wir zuerst einfach ein Fass antiken Rotwein und schauten uns um. Das ganze sah aus wie ein Naturkundemuseum, nur dass die Gäste in ihren Giovanni-Anzügen irgendwie nicht ins Bild passten. Nach zwei Litern wollte Mischa sich unbedingt mit einem der Gladiatoren anlegen. Er verhandelte hart, fand es aber dann doch zu teuer. Die Bedienung redete die ganze Zeit in Reimen auf uns ein, was sich als äußerst ansteckend erwies. Schon nach kurzer Zeit dichteten wir wie blöd zurück. Mit Anstrengung leerten wir derweil das Fass. Danach gingen wir in voll antikem Zustand an die frische Luft.

      Mischa behauptete zwar, der Abend fange jetzt erst richtig an und wollte sofort schräg gegenüber in die »Kaserne der Liebe« – eine Gay-Bar in einer ehemaligen Badeeinrichtung. Dort, so versprach uns der Türsteher, würden in den zahlreichen engen Duschkabinen Stühle und Tische stehen und junge Männer sich einander in die Ärsche kucken. Mischa wollte es nicht glauben und ging rein, ich aber hatte bereits die Nase voll von der neuen russischen Unterhaltungskultur und ging nach Hause schlafen.

      Wladimir Kaminer (15.11.2000)

      Ich werde verfolgt. Andere sehen schwarze Männer, haben die Mafia im Nacken oder das Finanzamt. Vor all dem fürchte ich mich nicht, aber wenn es klingelt, zucke ich zusammen. Es kann ja sein, dass sie plötzlich vor der Tür stehen. Dass sie lachend durch den Briefschlitz springen und womöglich auch noch anfangen zu singen. Im Chor, mehrstimmig. Das wäre schlimm. Erbsen, Möhren, Bohnen, fröhlich vereint, im Kreis tanzend. Mehr als schlimm, wirklich!

      Diese Bilder verfolgen mich seit Jahren. So genanntes famoses Zartgemüse hüpft durch meine Albträume. Nichtsahnend und gut gelaunt springt es seinem Schicksal entgegen. Ab ins Döschen, Deckel drauf. Weiß denn niemand, wie viele Kinder diesem Drama vor dem Fernseher zugeschaut haben? Traumatisch, ehrlich! Wie habe ich mich gefürchtet, damals, nachdem ich das zum ersten Mal gesehen hatte und Mutter dann sonntags Gemüse auf meinen Teller löffelte. Augen in den Kartoffeln, nun ja, das kommt in den besten Familien vor, aber was, wenn dem Mais plötzlich kleine Ohren wachsen und er ein diabolisches Grinsen aufsetzt? Würde er Rechenschaft fordern, wenn man zubeißt? Soll man da keine Angst bekommen? Schlimmer noch ist die Überlegung, was mit all dem Gemüse wurde, das durch den Bonduelle-Test gefallen ist. Gibt es dafür eine Erbsenrechtsvereinigung? Einen Möhrenschutzbund?

      So sahen sie aus, die Fragen meiner Kindheit. Als ich größer wurde und irgendwann auch Tomaten Turnschuhe trugen, Orangen von Bäumen in Saftflaschen kletterten, da habe ich meinen Fernseher verkauft und ein Radio angeschafft. Ich habe das alles nicht mehr verkraftet. Andere wurden Vegetarier nach dem Motto: Iss nichts, was ein Gesicht hat! Für mich galt: Iss nichts, was zu dir spricht. Aber was bleibt da noch übrig, wenn Gemüse anfängt zu reden?

      Mein Speiseplan hat sich seitdem drastisch reduziert: keine Paprika, keine Grapefruit und kein Maoam. Mit Mortadella habe ich keine Schwierigkeiten, denn die mit dem Bärchenmuster mochte ich noch nie. Italienische hat zwar Pistazien drin, aber sie hat wenigstens keine Augen und lächelt nicht, denn das Weiße sind nicht Zähne, sondern Speck. Da weiß ich, woran ich bin. Auch Hähnchen machten mir bis jetzt wenig Probleme. Die haben zwar ein Gesicht, aber hübsch sind sie ja nicht gerade. Jedenfalls nicht so niedlich wie diese kecken Maoam-Zitronen. Seitdem lebe ich nicht so schlecht.

      Doch neulich, als ich ahnungslos das Radio einschaltete, begann meine Paranoia von neuem. Eine Drohung drang aus dem Lautsprecher: »Wenn Hähnchenschenkel sprechen könnten!« Mir wurde übel. Unter hysterischem Gekicher priesen sich Hühnerkeulen einschmeichelnd selbst an.

      Nun bin ich vor nichts mehr sicher. Mein Radio habe ich in die Speisekammer gestellt und den Briefschlitz zugeklebt. Vielleicht werde ich auf Fisch umsteigen. Denn eins ist klar: wenn jetzt auch Hähnchenschenkel sprechen – Fische waren schon immer Langweiler. Sie haben geschwiegen! Hoffentlich bleibt das so.

      Ilke S. Prick (2.10.2002)

      Nachwuchsprobleme will das Metzgerhandwerk jetzt mit Pixi-Büchern bekämpfen

      Undankbare Jugend. Lässt sich gern anfixen mit einem Wiener Würstchen oder einer Scheibe Bierschinken. Aber hinter der Aufschnitttheke stehen, am Fleischwolf oder Blutbottich, das will sie später nicht. Tiere tot machen ist doch kein Beruf, so denken die Bälger und verputzen einen Big Mäc nach dem anderen. Und Eltern, Lehrer und Jobberater

Скачать книгу