Sinnliches Wissen. Minna Salami
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Es gibt noch viele weitere wichtige, wenn auch widersprüchliche Theorien über diese fundamentale Frage in der Bewusstseinsforschung, die auch bekannt ist als das Körper-Geist- oder Leib-Seele-Problem. Der Epiphänomenalismus behauptet, es gebe gar keinen Geist, nur einen Körper, der auf das Leben reagiert. Der Pantheismus am anderen Ende des Spektrums argumentiert dagegen, der Geist sei eine Art kollektives Projekt, bei dem alle von den Gedanken und Handlungen aller anderen beeinflusst werden. Baruch de Spinoza, dem die Formulierung des Pantheismus zugeschrieben wird, drückte es im siebten Lehrsatz von »Über die Natur und den Ursprung des Geistes« so aus: »Die Ordnung und Verknüpfung der Ideen ist dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge.«10 Aber noch hat niemand eine befriedigende Lösung für das gefunden, was David Chalmers »das schwierige Problem des Bewusstseins« nennt, womit einfach ausgedrückt die Frage gemeint ist, warum Menschen Gefühle haben. Wenn man bedenkt, dass wir nur eine Hälfte unseres Wissens nutzen, ogbon-ori, dann ist es vielleicht kein Wunder, dass dies noch immer ein so schwieriges Problem darstellt!
Das wirklich schwierige Problem besteht allerdings darin, dass das fragmentierte Wissenssystem, das heute verwendet wird, keine Antworten auf die drängenden Fragen liefert, die sich der Menschheit stellen, da es die erlebte Seite der Realität vernachlässigt. Unsere Bildungssysteme sind veraltet, sie bringen uns bei, wie man das Gehirn verändert, aber nicht die Psyche, sie erklären, wie man entwickelte Gesellschaften konstruiert, aber nicht, wie man zu entwickelten Bürger:innen in ihnen wird, und sie behaupten, Gefühle – die im Leben eine so zentrale Rolle einnehmen – seien nicht in der Lage, die Realität zu erklären.
Aus diesem Grund vermögen wir – obwohl wir im Informationszeitalter leben und uns eine Fülle von Einsichten zur Verfügung steht – die drängenden Probleme wie soziale Ungerechtigkeit, Sexismus, Rassismus, Klassismus, Speziesismus, Klimawandel, Armut, Unruhe, Fragen der psychischen Gesundheit und Einsamkeit nicht zu lösen. Ganz gleich, wie gebildet oder entwickelt eine Gesellschaft auch ist, verursachen genau diese Probleme überall Verzweiflung und Spaltung. Wir müssen also einräumen, dass wir uns entweder um die falschen Probleme kümmern oder dass wir die Probleme falsch angehen. Ich halte Letzteres für zutreffend. Der Produktion des Wissens fehlt die Seele.
Ich bezeichne die rigide, regelgebundene, roboterhafte Weise, auf die wir das Wissen heutzutage hauptsächlich betrachten, als europatriarchalisches Wissen, eine auf Hierarchie fixierte Konstruktion des Wissens, die elitäre europäische Männer als Propaganda verbreiteten, um ihre eigene Weltsicht im großen Maßstab durchzusetzen.
Das Wort Propaganda stammt von propagare ab, womit ursprünglich die Fähigkeit von Pflanzen gemeint war, sich von einer Generation zur nächsten zu vermehren und auszubreiten. Es ist etymologisch treffend, da die Fähigkeit, sich von Generation zu Generation anzupassen, gerade die Größe des europatriarchalischen Wissens ausmacht, jenes Narrativs, das Bemessung und Quantifizierung als Inbegriff des Wissens in den Mittelpunkt rückt und den europäischen Phänotyp und männlichen Genotyp als besonders begabt in der Produktion des genannten Wissens darstellt.
Das europatriarchalische Wissen hat seine Wurzeln im sogenannten Zeitalter der Entdeckungen. In jener geschichtlichen Periode entsandten die europäischen Monarch:innen die ersten Entdecker auf Reisen und Vorstöße in Weltregionen, die man damals für »das Unbekannte« hielt.
Angespornt wurden sie durch ein Sprichwort: »Wissen ist Macht.« Dieselbe Wendung nutzten progressive Schwarze später als Slogan, um dem Betrug ein Ende zu setzen. Doch während die Bürgerrechtsaktivist:innen damit meinten, Wissen sei die Macht, »ihr Schicksal und ihre Identität« selbst zu bestimmen, wie die Zeitschrift Ebony 1969 in einer Sonderausgabe mit dem Titel »The Black Revolution« schrieb, meinte der im siebzehnten Jahrhundert lebende britische Philosoph Francis Bacon, der den Spruch prägte, ihn im wörtlichen Sinne. Wissen war ein Kontrollwerkzeug: Es war das gottgegebene Recht des Mannes, zu wissen und die Natur nach seinen Wünschen und Zielen zu formen.
Bacons Novum Organon aus dem Jahr 1620 trug dazu bei, die allgemeine Einstellung in Europa fortzubewegen von der im Mittelalter vorherrschenden Vorstellung, das Wissen sei etwas, das es zu bewahren gilt, und hin zu der Vorstellung, das Wissen sei etwas, das man erwerben muss, wie es in der modernen Welt nun hieß. Bacons Methode der Induktion wird typischerweise als Wegbereiterin des Wissensparadigmas angesehen, dem wir heute noch anhängen, aber ich bin der Ansicht, dass sein Beitrag dazu, das Wissen als etwas anzusehen, das wir in Konkurrenz zu anderen erwerben sollen, ebenso entscheidend ist. Erwerben bedeutet »in seinen Besitz bringen«, und genau so betrachten wir das Wissen – als etwas Quantifizierbares, das wir in großen Mengen und um jeden Preis kontrollieren und besitzen müssen. Unsere Politik, Wirtschaft, Justiz, Medien, Bildung und Regelwerke sind allesamt nach dem fundamentalen Kernprinzip des europatriarchalischen Wissens gestaltet, demzufolge die Anhäufung von Wissen letztendlich Kategorisierung, Konkurrenz und Kontrolle zum Ziel hat.
Ich verwende den Begriff europatriarchalisches Wissen anstelle von beispielsweise Imperium, Supermacht oder kapitalistisches Patriarchat weißer Suprematisten, wie die schwarze feministische Gelehrte bell hooks das System, in dem wir leben, so scharfsinnig nennt, da wir in diesem Buch das Narrativ hinter der Wissensproduktion (die Rahmengeschichte oder das Metanarrativ) neu konzipieren, und nicht die Struktur, die dieses erzeugt. Beides ist aber natürlich eng miteinander verknüpft. Die strukturellen und politischen Systeme von White Supremacy, Kapitalismus, Neoliberalismus und Imperialismus stellen den Daseinszweck des europatriarchalischen Wissens dar. Dennoch möchte ich es auf diese Weise bezeichnen, um das Narrativ von den Strukturen zu unterscheiden, die es erzeugt, damit wir hoffentlich erkunden können, ob ein anderes Narrativ auch eine andere Struktur erzeugen würde. Im Wesentlichen müssen wir, um die Struktur zu verändern, als Erstes die Geschichte über die Struktur verändern.
Das ist möglich. Die MeToo-Bewegung zum Beispiel veränderte auf fundamentale Weise, wie die breite Masse über sexualisierte Gewalt spricht. Sie verschob das Narrativ vom Schweigen hin zu einer Stimme und von der Scham hin zur Schuldzuweisung. Das wiederum verändert die Strukturen sowohl in der privaten als auch in der politischen Sphäre, indem es den Schwerpunkt auf Einvernehmen und die Kriminalisierung von sexuellem Missbrauch legt. Auf ähnliche Weise müssen wir in allen unterdrückerischen gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Kontexten die Erzählung verändern.
Über die Strukturen von White Supremacy, Imperialismus, Elitismus und Patriarchat lässt sich nichts Positives sagen, allerdings ist das Narrativ, das europatriarchalisches Wissen erzeugt, nicht vollkommen negativ. Die wissenschaftlichen, industriellen und informationstechnischen Revolutionen hätten nicht stattgefunden ohne einen Wettlauf um den Erwerb von Wissen. Ohne diese Revolutionen hätte es die (durchaus problematische) Aufklärung nicht gegeben und damit auch weder Enzyklopädien, Landkarten, Eisenbahnen, Flugzeuge oder moderne Universitäten noch viele andere Institutionen, die auf ihre eigene Weise unsere gemeinsame Erfahrung bereichern. Das europatriarchalische Wissen hat einige bedeutende Errungenschaften hervorgebracht, nicht zuletzt in der hochgeschätzten Entwicklung des rationalen Denkens und der Vernunft. Rationalität und Vernunft sind Phänomene, die wir in der Tat schützen sollten. Um es ganz klar zu sagen: Sinnliches Wissen soll nicht dazu führen, die Induktion oder die objektive Beurteilung aufzugeben.
Allerdings ist das europatriarchalische Wissen ironischerweise selbst gar nicht so fest in der rationalen Objektivität verwurzelt, für die es eintritt. Es ist ein konstruiertes und voreingenommenes Narrativ, das