Sinnliches Wissen. Minna Salami
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Die Erfahrung verdeutlichte für mich jedoch die Dringlichkeit, europatriarchalische Vorurteile gerade auch auf dem Gebiet der Wissenschaft zu untersuchen, da die neuen Technologien dieselben alten Denkmodelle reproduzieren. Ich meine nicht nur, wie das Wissen geprägt wird von Gender, Race, Klasse, und so weiter, sondern auch, welche moralischen und ethischen Fragen die wissenschaftliche Methode untermauern. Welche Weltsicht hat uns zu unserer gegenwärtigen Gesellschaft geführt? Und wie können wir sie verändern? Denn wenn die Wissensproduktion in der Gegenwart unethisch ist, dann wird auch das produzierte Wissen in der Zukunft unethisch sein.
Dass die Wissenschaft trotz entscheidender Beweise für das Gegenteil ihre umfassende Reputation als von Natur aus objektiv aufrechterhalten kann, reicht zurück bis zu der Wahrnehmung von Wissen als etwas zu Erwerbendem, geprägt von frühen Europatriarchen wie Francis Bacon. Nur wenige Menschen stellen dieses besondere Element der voreingenommenen Wissensproduktion infrage, dabei ist es die Wurzel, die den Status quo am Leben erhält. Denn wenn man sich Wissen als etwas zu Erwerbendes vorstellt, muss man es sich zunächst als Res extensa vorstellen, etwas von einem selbst Abgetrenntes. Schließlich kann man nicht erwerben, was man bereits besitzt. Diese Unterscheidung wiederum erfordert, dass man Wissen als etwas wahrnimmt, das sich von selbst manifestiert, was bedeutet, dass man Wissen als neutral ansehen muss. Weiterhin muss man das Wissen, um es als neutral anzusehen, von den Denkmustern und gesellschaftlichen Bedingungen abtrennen, die es erzeugt haben. Um den Glauben an diesen Prozess aufrechtzuerhalten, muss man propagieren, die gültigste Form des Wissens sei jene, die sich messen lässt. Letztlich funktioniert auf diese Weise der Prozess des europatriarchalischen Wissens. Wissen um jeden Preis zu erwerben, entfernt es aus seinem Kontext und befördert Vorurteile.
Als ich sechs Jahre alt war, veröffentlichte Audre Lorde ihren vielbeachteten Essay »Du kannst nicht das Haus des Herren mit dem Handwerkszeug des Herren abreißen«. Ich las ihn natürlich erst viel später, an einem Punkt in meinem Leben, an dem ich eine Karriere im Marketing hinter mir gelassen und einen feministischen Blog mit dem Titel MsAfropolitan gestartet hatte, der nun rasant wuchs. Ich wollte einen Master in Gender Studies machen, um meine Texte von jenem für scharfe Beobachtungen erforderlichen Verständnis zu erfüllen. Ich entschied mich für die School of Oriental and African Studies, wo ich mich auf schwarze und afrikanische feministische Perspektiven auf Gender konzentrieren konnte. Zur Vorbereitung las ich viel Sachliteratur von schwarzen Feministinnen, darunter auch Lordes Sister Outsider, das mich zutiefst berührte. Wenn sie sagte: »Du kannst nicht das Haus des Herren mit dem Handwerkszeug des Herren abreißen«, war es, als spräche sie direkt zu mir. Ich wollte sie fragen: »Mit welchem Handwerkszeug denn dann?«
Ich war nicht die Einzige, die sich über diese Frage den Kopf zerbrach. Seit der Veröffentlichung des Textes im Jahr 1984 wollten viele Menschen wissen, welches Handwerkszeug Lorde genau meinte. In Kommentaren, Essays, Workshops, Dissertationen, Protestslogans, Panels, und so weiter stellten alle dieselbe Frage: welches Handwerkszeug? Alle Menschen mit einem starken Interesse an der Befreiung von Frauen, Nichtweißen, Armen, indigenen Menschen und der Umwelt, alle, die sich an gegenkulturellem Denken beteiligen, sehnen sich danach, das Handwerkszeug des Herren zu identifizieren.
Die meisten Analysen kommen zu dem Schluss, das Handwerkszeug des Herren seien Systeme wie der Kapitalismus, der Kolonialismus oder das Denken der Aufklärung. Eine Studie, auf die ich gestoßen bin, argumentierte überzeugend, Gesetze, die das Saatgut regulieren, seien ein Handwerkszeug des Herren. Andere vertreten (etwas konservativer) die Ansicht, das Handwerkszeug des Herren seien Hilfsmittel wie Gerissenheit, Taktik und Hinterhältigkeit. Für solche Gesprächspartner:innen ist »ein Werkzeug ein Werkzeug«, und gäbe es denn einen besseren Weg, das Haus des Herren zu zerstören, als mit dessen eigenen Mitteln?
Die Diskussionen sind endlos, übersehen aber ein wesentliches Element: Um zu entscheiden, welche Werkzeuge wir verwerfen sollten, müssen wir uns auf das Objekt konzentrieren, das diese erbaut haben – das Haus des Herren. So viel Betonung liegt auf dem Wort Handwerkszeug, dass wir die Bedeutung des Wortes Haus übersehen haben.
Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf das metaphorische Haus des Herren verlagern, werden wir sehen, dass es eine Täuschung ist. Es ist ein Gefängnis, das aussehen soll wie ein Zuhause, ein Kerker, der sich als Palast tarnt, ein trauriger Ort, der vorgibt, ein glücklicher zu sein. Sogar das Wort Haus, wie wir es heute verstehen, bezeichnet nicht länger einen Ort der Geborgenheit und Wärme, sondern einen des Marktwerts, der Privatisierung und der Erweiterung des Egos.
Du kannst im Haus des Herren Bilder aufhängen. Du kannst seine Mauern mit Slogans über Freiheit besprühen. Du kannst in seinem Garten Altäre für die Gleichberechtigung aufstellen. Dennoch wird das Haus des Herren weiterhin ein Gefängnis für alle sein, mit Ausnahme des Herren selbst. Welchen Preis müssen wir dafür zahlen, im metaphorischen Haus des Herren zu bleiben? Warum sollten wir für einen Platz an seinem Tisch kämpfen? Weshalb feiern wir unkritisch Blackface-Positionen in imperialistischen Strukturen oder »Woman-face«-Patriarchen? Wir können nur frei sein, wenn wir das Haus des Herren verlassen.
Ich will damit nicht sagen, dass wir bei den Feen im Wald leben sollen, sondern dass wir die Wände des Hauses abreißen müssen, um hineinblicken zu können. Die Illusion des Hauses des Herren zu durchschauen bedeutet zugleich, es abzureißen, denn nur, wenn wir die Realität klar erkennen, können wir sie verändern. Sinnliches Wissen hilft uns, die Wirklichkeit deutlich, vollkommen und mit all unseren Fähigkeiten zu sehen.
Was das Handwerkszeug des Herren angeht, all dies hier gehört nicht dazu: Die Werkzeuge des Herren sind nicht Poesie, Verspieltheit, Eros, Grenzenlosigkeit, Gewissenhaftigkeit, Dialog, Intuition, Lebensfreude, Stille, Wärme, Leidenschaft, Schönheit, Mitgefühl, Geheimnis, Weisheit, Ehrlichkeit, Weiblichkeit, Innerlichkeit, Sinnlichkeit, ogbon-inu.
Afrikanische Wissenssysteme sind schon seit Langem eine Fundgrube für Narrative, die feministische Vorstellungen von Wissen prägen. Mit den ältesten Zivilisationen der Welt verfügt Afrika auch über einige der ältesten Patriarchate, weshalb wir auf dem afrikanischen Kontinent ebenfalls einige der ältesten protofeministischen Narrative finden.
In der traditionellen afrikanischen Gesellschaft waren Frauen keine ans Haus gebundenen Ehefrauen. Sie waren Händlerinnen, Politikerinnen, Bäuerinnen, Künstlerinnen und Schamaninnen. Sie waren Göttinnen, Hexen, Prophetinnen, Königinnenmütter, Regenköniginnen, Pharaoninnen und Geistermedien.
In den afrikanischen Schöpfungsmythen gibt es keinen übergeordneten höchsten männlichen Gott. Wenn überhaupt, weisen historische Spuren darauf hin, dass einst alle Afrikaner:innen eine Muttergöttin verehrten. Das soll nicht heißen, dass im Pantheon der Göttinnen und Götter stets Harmonie zwischen den Geschlechtern herrschte. Wohl kaum! Unter den Gött:innen sorgen die Geschlechter genau wie bei den Menschen für einigen Wirbel, und zwar gerade, um uns vorzuführen, was passieren kann, wenn wir Harmonie nicht zumindest anstreben.
Überdies sind die zugrundeliegenden Mythen egalitär in Bezug auf die Natur und andere Spezies. Wie viele ihrer Pendants in anderen afrikanischen religiösen Systemen (die Erdgöttin Asase Yaa in Ghana, Dzivaguru in Simbabwe, Mamlambo in Südafrika) sind die Yoruba-Gött:innen anthropomorphe Naturgewalten. Daher behandelt ein Mensch, der sich mit afrikanischer Spiritualität beschäftigt, die Natur mitfühlend. Ähnlich werden auch Tiere nicht als den Menschen unterlegen angesehen, da wir alle auf gleiche Weise vom Leben abhängen. In den afrikanischen Mythen sind Tiere Gefährt:innen, die sogar gelegentlich Menschen heiraten und mit ihnen Kinder zeugen können, die Mensch und Tier zugleich sind. Tiere sind auch Lehrer:innen, jedes mit einer besonderen Lektion, die es uns beibringen kann. Die Schildkröte etwa führt vor, wie man sich vor unehrlichem und boshaftem Verhalten in Acht nimmt, da sie dieses selbst an den Tag legt. Anansi, die Spinne aus der gleichnamigen ghanaischen Geschichte, lehrt auf ähnliche Weise etwas über Dummheit, indem sie selbst Dummheiten macht. Doch nicht nur in Mythen teilen sich Afrikaner:innen