Sinnliches Wissen. Minna Salami

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Sinnliches Wissen - Minna Salami

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Löwen, Leoparden und Hyänen –, ohne sich vor ihnen zu fürchten. Im Gegensatz zum europatriarchalischen Wissen betonen historische afrikanische – wie auch andere indigene – Wissenssysteme den Wert von Harmonie nicht nur mit anderen Menschen, sondern auch mit der Natur und anderen fühlenden Wesen. Afrikanische Philosophie ist eine Philosophie des »Interseins«.

      Anders als manche organisierten Religionen kennen afrikanische spirituelle Philosophien weder Himmel noch Hölle, da sie im Allgemeinen nicht daran glauben, dass etwas wie der Tod existiert. Die Seelen der Verstorbenen werden nicht von einem manichäischen Teufel in der Hölle für ihre Sünden bestraft. Afrikanischer Spiritualität zufolge »leben« die Toten in wiedergeborener Form oder auf nicht-physikalischen Ebenen des Kosmos. Laut der Yoruba-Kultur hat die menschliche Seele drei Ebenen: Kraft oder Atem, Schatten und Geist (emi, ojiji und ori). Die Zulu haben eine ähnliche Triade: idlozi (Schutzgeist), umoya (Atem) und isithunzi (Schatten), und für die Igbo besteht die menschliche Seele aus uwa (sichtbare Welt) und ani mmo (geistige Welt). Für die alten Ägypter:innen waren es ba, ka und akh, Komponenten der Seele, die jeweils die Lebenskraft, die Geisteskraft sowie die Einheit der beiden repräsentieren, die über diese Welt hinausgeht und bis in die nächste reicht. Daraus folgend ist Wissen nicht etwas, das man während des Lebens erwerben und horten muss, da Weisheit und Existenz endlos und unsterblich sind.

      Bezeichnenderweise unterstützen afrikanische Philosophien kreativen Ausdruck (Kunst, Tanz, Rituale, Bildhauerei, und so fort) als höchste Form des Wissens. Rituale spiegeln nicht nur Spiritualität wider, sondern auch das Teilen von Wissen. Gottheiten sind nicht einfach göttliche Energien, sondern repräsentieren auch die Philosophie. Jede Göttin und jeder Gott ist die Ausformulierung eines Konzepts. So ist etwa Shango, die spirituelle Verkörperung des Donners, auch eine historische Lesart einer afrikanischen Philosophie der sozialen Gerechtigkeit. Oya, Göttin der Tornados und Beschützerin der Frauen, bietet eine Interpretation des Feminismus im antiken Afrika.

      In ihrem letzten Buch Socrates and Òrúnmìlà: The Two Patrons of Classical Philosophy aus dem Jahr 2014 zog die verstorbene nigerianische feministische Philosophin Professor Sophie Bosede Oluwole einen bahnbrechenden Vergleich zwischen Sokrates, dem Begründer der westlichen Philosophie, und Orunmila, dem Verfasser der Wissenssammlung der Yoruba, die bekannt ist als Ifa. Der Ifa-Textkorpus, der mittlerweile größtenteils auch in schriftlicher Form existiert, ist ein geomantisches System aus 256 Zeichen, zu denen Tausende Verse gehören. Er wurde über Jahrtausende im Gedächtnis der traditionellen Yoruba-Philosoph:innen namens Mamalawos und Babalawos (Mütter beziehungsweise Väter des esoterischen Wissens) aufbewahrt, die das Ifa vierzehn Jahre lang studieren mussten, ehe sie seine Weisheit weitergeben durften.

      Oluwole fragte sich, weshalb Sokrates, der keine schriftlichen Werke hervorgebracht hat, als Vater der westlichen Philosophie gelten darf, nicht jedoch Orunmila, der ebenfalls seine Ideen an seine Schüler:innen weitergab, ohne sie niederzuschreiben. Wo Sokrates den berühmten Satz sagte: »Ein unerforschtes Leben ist nicht lebenswert«, erklärte Orunmila: »Ein Sprichwort ist ein konzeptuelles Analysewerkzeug.« Wo Sokrates sagte: »Die höchste Wahrheit ist die ewige und unveränderliche«, bemerkte Orunmila: »Wahrheit ist das Wort, das niemals korrumpiert werden kann.« Wo Sokrates sagte: »Gott allein ist weise«, sprach auch Orunmila in folgender Aussage die Grenzen des menschlichen Wissens an: »Kein kluger Mensch kennt die Anzahl der Sandkörner.« Oluwole drängte die Afrikaner:innen dazu, sich ihr philosophisches Erbe zurückzuholen, und argumentierte, der Wissensfundus, den sie in der Yoruba-Tradition entdeckt habe, sei so reich und komplex wie jeder, der sich im Westen finden lässt.

      Ich stehe einigen Elementen des afrikanischen spirituellen Lebens ebenso kritisch gegenüber wie allen anderen Formen von Religion. Besonders kritisch bin ich gegenüber der patriarchalischen, autoritären und gerontokratischen (Herrschaft der Ältesten) Denkweise in vielen afrikanischen Philosophietraditionen. Selbst wenn Frauen im antiken Afrika spirituelle Macht besaßen, wurde die Misogynie nicht von den Europäern importiert. Aus Europa kam vielleicht die Misogynie, wie wir sie kennen – die sexuelle Objektifizierung von Frauen, und so weiter. Aber es gibt zu viele historische Belege für Misogynie als Modus Operandi im präkolonialen Afrika, um sie allein mit der Kolonisation in Verbindung zu bringen. Tatsächlich war die spirituelle Macht, über die Frauen im präkolonialen Afrika verfügten, oftmals eine Gegenreaktion auf die patriarchalische Unterdrückung. Auch wenn einige Frauen Zugang zu Macht hatten, war das »Subjekt« in der afrikanischen Gesellschaft ebenfalls männlich.

      Außerdem bin ich gegen alle Formen des abergläubischen Denkens als Wissensmethode, da diese sich auf Angst gründen. Die fatalistische Vorstellung, Zeichen und Symbole könnten den Ausgang des eigenen Lebens bestimmen, lenkt davon ab, die Verantwortung zu übernehmen für das eigene Wissen und die eigene Fähigkeit, Lebenserfahrungen zu gestalten.

      Europatriarchalisches Wissen mag das größte Hindernis für das Wohlergehen des Planeten und seiner Bewohner:innen darstellen, aber es ist nicht das einzige. Ebenso wenig ist europatriarchalisches Wissen gleichbedeutend mit weißen Männern. Man könnte sagen, romantische Philosophen, Dichter und Künstler wie Ralph Waldo Emerson, D. H. Lawrence und Caspar David Friedrich beförderten etwas ähnliches zu dem, was ich als sinnliches Wissen bezeichne, zumindest was den poetischen und den emotionalen Blickwinkel angeht (sicherlich nicht den afrozentrischen schwarzen feministischen). Nehmen wir als Beispiel Kreidefelsen auf Rügen, von Friedrich gemalt als eine emotionale Reaktion auf die natürliche Welt. Auf dem Gemälde sehen wir Friedrich und seine frischgebackene Ehefrau eine wundervolle Aussicht auf die Kreidefelsen genießen, die heute im deutschen Nationalpark Jasmund liegen. Das Werk evoziert in seinen Betrachter:innen eine beseligende Würdigung der Schönheit der Natur.

      In den 1920er-Jahren waren die Felsen durch Erosion bedroht, aber die Proteste für ihre Bewahrung waren erfolgreich, und die Aussicht ist heute noch so magisch wie damals. Man stelle sich eine Welt vor, in der die Kreidefelsen nicht mehr existieren. Nicht nur hätten wir die Möglichkeit verloren, eine kunstvolle Aussicht zu betrachten, uns wäre auch eine Gelegenheit genommen worden, die Kunst in uns selbst zu sehen, da wir selbst ein Teil der Natur sind. Darauf spielte auch Friedrich an, als er sagte: »Der Maler soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht, sondern auch, was er in sich sieht. Sieht er aber nichts in sich, so unterlasse er auch zu malen, was er vor sich sieht.«

      Der Punkt ist: Genauso wie die griechische Mythologie und Philosophie über Jahrhunderte genutzt wurden, um ihre Einsichten auf das gegenwärtige europäische Leben anzuwenden – sei es in der Kunst, der Politik, der Literatur, der Philosophie oder den Geschlechterbeziehungen –, ist auch die Tiefe, die sich aus afrikanischen Mythen und afrikanischer Philosophie ziehen lässt, relevant für das gesamte Weltwissen.

      Wir vergessen nur selten Ideen, die unsere Sinne anregen – historische Ereignisse wie Martin Luther Kings »Ich habe einen Traum«-Rede oder Nelson Mandelas erhobene Faust beim Verlassen von Robben Island oder die Anerkennung der Rechte der Natur in der ecuadorianischen Verfassung oder wie der Komponist Ludovico Einaudi sein eindringlich berührendes Musikstück »Elegy for the Arctic« auf einem schmelzenden Gletscher in Norwegen spielte. Diese Augenblicke sind exemplarisch, da sie sich auf uns als Ganzes auswirken – intellektuell, emotional, körperlich und geistig.

      Dasselbe gilt für alle guten Ideen. Wie eine Idee uns empfinden lässt, ist ebenso wichtig wie das Wissen, das sie uns vermittelt. Man könnte sagen, gute Ideen sind wie gute Songs. Mit den richtigen Elementen – wenn die Worte eine Melodie haben, wenn die Stimme Schönheit und Leidenschaft besitzt, wenn der »Rhythmus« der Idee im Einklang ist mit dem Zeitgeist – zünden sie und wirken bis in die Mainstream-Kultur. Wie der Autor und Fotograf Teju Cole in einem Interview mit dem Journalisten Ryan Kohls auf dessen renommierter Website What I Wanna Know sagt: »Tief in uns ist etwas, das auf eine sorgfältig gepflegte Sprache reagiert, ob es sich nun um Literatur, Gedichte oder wirklich gute Songtexte handelt.«

      Gleichwohl beende ich dieses Kapitel mit der Betonung, dass sinnliches Wissen keine

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