Sinnliches Wissen. Minna Salami

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Sinnliches Wissen - Minna Salami

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wie Kriegen, Armut und Krankheiten ein Ende bereitet werden könnte, wendet diese jedoch nicht an. Statt blühende, aufregende und weise Gesellschaften zu gestalten, wie es Aufgabe des Wissens sein sollte, erschafft das europatriarchalische Wissen eine Welt des sozialen, politischen, psychologischen und spirituellen Leidens. Das ist kein Zufall. Solange es gesellschaftliche Probleme gibt, die gelöst werden müssen, muss auch immer mehr technisches Wissen erworben werden – Daten, Studien, Gutachten, Analysen, Fachgremien, Wirtschaftsmagazine, und so weiter. Je mehr Ressourcen in technisches Wissen gepumpt werden müssen, desto stärker wird die Vorstellung, alles Wissen sei technisch.

      Trotz aller Gelehrsamkeit wird das europatriarchalische Wissen niemals das Problem des menschlichen Leidens in den Griff bekommen, da das Ende des menschlichen Leidens auch das Ende seiner Herrschaft bedeuten würde. Der Algorithmus ist eindeutig: Solange europatriarchalisches Wissen der Input ist, wird der Output stets dasselbe Denkmuster favorisieren. Um das Schicksal der Menschheit zu ändern, müssen wir den Input hinterfragen – müssen unsere Art, das Wissen zu betrachten, neu konzipieren mit einer anderen, korrigierenden Erzählung. Eine Tabula rasa.

      Verändert man das herrschende Narrativ, verändert sich auch alles andere. Genau aus diesem Grund wird so viel Propaganda verbreitet, um es aufrechtzuerhalten. Das europatriarchalische Wissen zu besiegen ist daher ein schwieriger Prozess. Er erfordert eine vollkommen neue Art, zu denken und in der Welt zu existieren. Er bedeutet, Wissen nicht als etwas Statisches, sondern als ein kreatives Projekt anzusehen, etwas, das wächst und sich weiterentwickelt – eine menschliche Aktivität, ein Kunstwerk. Denn gerade das macht es lohnenswert.

      Um eins klarzustellen: Auch wenn sensuousness und sensuality keine Synonyme sind, lehne ich das erotische Element nicht ab. Im Gegenteil könnte man sagen, ich plädiere für eine Erotisierung des Wissens. Das europatriarchalische Wissen eliminiert das Erotische nicht zuletzt aufgrund seiner Assoziation mit dem Femininen. Es weigert sich, das Wissen mit dem Sinnlichen zu verweben, denn es bevorzugt die karge Vorstellung, Wissen habe mit verkörperter Erfahrung nichts zu tun. Im Europatriarchat ist alles binär, entweder oder. Entweder Verstand oder Körper, entweder Vernunft oder Emotion, entweder lokal oder global, entweder angeboren oder erlernt, entweder weiblich oder männlich. Sinnliches Wissen dagegen ist kaleidoskopisch, neben und innerhalb von. Der Verstand existiert neben und innerhalb des Körpers, Vernunft neben und innerhalb des Gefühls, das Weibliche neben und innerhalb des Männlichen, und andersherum.

      Das europatriarchalische Wissen schätzt das Erotische, das Feminine und das Poetische auch deshalb gering, weil sie mit der natürlichen Welt verbunden sind. Was das europatriarchalische Narrativ im Kern verteufelt, ist Innerlichkeit, ogbon-inu. Poesie ist die Sprache des Inneren oder der Seele. Natur bewohnt das Innere der Erde. Und die Sexualorgane der Frau, die poiesis (Leben, Lust und Schöpfung) in sich tragen, liegen im Inneren des Körpers. Die Vagina ist nicht nur ein feuchter, warmer und dunkler Ort, wie ein Dickicht in einem Wald, sie führt auch zu einem noch versteckteren, jedoch Leben spendenden Ort, der Gebärmutter. All diese sexuelle Innerlichkeit umgibt wie eine Ozonschicht die Klitoris, wohl das poetischste Organ, das man sich vorstellen kann.

      Menschen sind die einzige Spezies, die sowohl ausdrücklich poetisch als auch erotisch ist, und diese Eigenschaften in der Wissensproduktion herabzusetzen bedeutet, Wissen seiner Menschlichkeit zu berauben und es robotisch werden zu lassen. Gedichte erklären ein Gefühl wie Verlangen in einer Form, wie es die wissenschaftliche Methode nicht vermag. Tanz beschreibt Freiheit in einer Art, wie die Mathematik es nicht kann. Innere Stille erklärt das Leben auf eine Weise, wie es Analysen nicht zustande bringen. Die Anerkennung der rohen, reinen Eigenschaft der Innerlichkeit ist wesentlich für einen bedeutenden Wandel. Wendeten wir sinnliches Wissen etwa auf die Wirtschaft an, würde es eine Art »erotische Wirtschaft« erzeugen, in der anstelle von Überschuss und Mangel Wechselseitigkeit und Unterstützung gediehen. Wendeten wir es auf die Erziehung an, würden Kinder neben Mathe und Naturwissenschaften auch Unterricht in Fächern wie Empathie und Dialog erhalten. Diese Stoffe würden sich vermischen, im Matheunterricht gäbe es eine Diskussion über Kommunikation, und im Empathieunterricht würden statistische Muster genauso analysiert wie Kunstwerke.

      Eine Strophe aus einem Gedicht der während der Jin-Dynastie (266–420) lebenden chinesischen Dichterin Zi Ye, auch bekannt als »Lady Midnight«, zeigt, wie die Grenze zwischen Wissen, Poesie und Erotik verwischen kann:

      Ich fand keinen Schlaf die ganze Nacht,

      Da der Mondschein auf mein Bett fiel.

       Ich hörte eine Stimme, die unablässig rief:

      Und aus dem Nichts gab Nichts zur Antwort: »Ja«.

      Das »Ja« in dem Gedicht könnte einem natürlichen Verlangen entsprechen, eine Antwort auf eine Frage zu bekommen, vielleicht auf einen spirituellen Zweifel. Ebenso könnte es ein »Ja« zur Berührung eines Liebhabers oder einer Liebhaberin sein. Das Mondlicht evoziert sowohl Klarheit als auch Geheimnis, und die schlaflosen Nächte könnten von Leidenschaft oder aber von tiefen Gedanken ausgelöst worden sein. Wenn das »Ja« erscheint, wirkt es erhellend und erotisch zugleich. Wir können jedoch auch spüren, dass dieses »Ja« die Dichterin mit Angst erfüllt. Wenn man sozialisiert ist, »Nein« zu denken, dann kommt das »Ja« »aus dem Nichts« und erschreckt einen wie ein Gespenst. Oder, in Audre Lordes Worten: »Wir sind dazu erzogen worden, das Ja in uns selbst […] zu fürchten.«11

      In ihrem Essay »Vom Nutzen der Erotik« argumentierte Lorde, das Erotische sei eine Ressource, die »einer zutiefst weiblichen und spirituellen Ebene angehört«. Ihre Unterdrückung sei die Unterdrückung einer »Quelle von Macht und Wissen in unserem Leben«, schrieb sie.12 In einem anderen Essay mit dem Titel »Dichten ist kein Luxus« argumentierte Lorde, das Dichten sei eine »Lebensnotwendigkeit« im Dasein von Frauen, da wir durch Dichtung eine »Sprache[, die] noch nicht existiert«, gestalten.13 Die Verschmelzung von dem, was Lorde als »europäische […] Art«14 des Wissens bezeichnet – was ich europatriarchalisches Wissen nenne –, die sich auf Probleme und Lösungen konzentriert, mit der »nicht-europäischen Sicht des Lebens«15, die den Schwerpunkt auf die Interaktion mit dem wirklichen Leben legt, war ihrer Ansicht nach der »Schlüssel zu unserem Überleben«16 und werde am besten durch Dichtung erreicht. Dichten als Luxus zu bezeichnen heiße daher, zu verwerfen, »was wir zum Träumen brauchen«17. Damit vernachlässigen wir gerade das, was wir benötigen, »um unseren Geist unmittelbar auf die Verheißung hin und durch sie zu bewegen«18. Im Wesentlichen behaupten wir damit, unser »Frausein« selbst sei ein Luxus.

      Eins der frühesten im alten Ägypten anonym verfassten Gedichte von ca. 2000–1100 vor unserer Zeit veranschaulicht ebenfalls diese Nähe von Wissen und Eros:

       Deine Liebe hat alles in mir durchdrungen

      Wie in Wasser getauchter Honig,

      Wie ein Duft, der Gewürze durchdringt,

      Wenn man Saft untermischt.

      Die Dichterin oder der Dichter spricht wahrscheinlich vom Entzücken (»in Wasser getauchter Honig«) einer Transformation, die durch eine spirituelle Erleuchtung hervorgerufen wird, aber die Sprache evoziert den Liebesakt. Der französisch-marokkanische Philosoph Alain Badiou sagt in Lob der Liebe, Liebe werde nicht allein durch den Verstand kultiviert, sondern auch durch »eine transzendente Macht«. In diesem Gedicht könnte die transzendente Macht ebenso gut ein Liebhaber wie das Wissen sein.

      Jene, die den Fortschritt zerstören wollen – Fundamentalist:innen, Imperialist:innen, Sexist:innen, korrupte Regierungen, weiße Suprematist:innen, Militärs, gierige Konzerne, und so weiter –, treten einer sinnlichen Herangehensweise an das Wissen entgegen, da Tyrannen schon immer verstanden haben, dass

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