Der Mensch als Rohstoff. Christian Blasge
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Die kalifornische Ideologie: Gegenkultur, Silicon Valley und Stanford
»Am Ende des 20. Jahrhunderts vollzieht sich schließlich die lange prophezeite Konvergenz der Medien, der Computer und der Telekommunikation zu einem Hypermedium. Wieder einmal ist die unermüdliche Begierde des Kapitalismus, die kreativen Kräfte des Menschen zu diversifizieren und zu intensivieren, auf dem Sprung, die Weise, wie wir arbeiten, spielen und zusammen leben, qualitativ zu verändern. Durch die Integration verschiedener Technologien mittels gemeinsamer Protokolle wird etwas erzeugt, was mehr als die Summe seiner Teile ist. […] In diesem entscheidenden Augenblick hat ein loses Bündnis von Autoren, Hackern, Kapitalisten und Künstlern die Definition einer heterogenen Orthodoxie für das kommende Informationszeitalter geschaffen: die kalifornische Ideologie.«57
Richard Barbrook (*1956) und Andy Cameron
Die kalifornische Ideologie hat ihren Ursprung in den späten 1960er-Jahren. Sie kann als eine Art Gegenbewegung zum konservativen Establishment aufgefasst werden – auch wenn Google, Facebook, Apple und Co. mittlerweile selbst eine Art Establishment repräsentieren. Damals gingen hauptsächlich junge Menschen gegen den US-Imperialismus, der sich durch den Krieg gegen das kommunistische Nordvietnam (1964−1975) äußerte, gegen Rassismus, Sexismus, geistlosen Konsum und Umweltverschmutzung auf die Straße. Sie forderten eine soziale Revolution und propagierten einen Lebensstil frei von bürgerlichen Tabus und Zwängen. Diese Gegenkultur hatte großen Einfluss auf die damalige Musikszene, auf die Filmindustrie und auf die Kunst. Komplettiert wurde die Rebellion durch den Gebrauch psychedelischer Substanzen wie LSD, was ihr in der öffentlichen Wahrnehmung und ihrer Authentizität nachweislich geschadet hat. Dennoch ist diese revolutionäre Gegenbewegung, die abschätzig als Hippiekultur bezeichnet wurde, nicht verschwunden – sie hat sich lediglich emanzipiert. Die aus ihr entstandene kalifornische Ideologie zeigt, dass die Ambitionen jener jungen Menschen, die heute im Silicon Valley die Welt zu verändern versuchen, mehr sind als lediglich die Aussicht auf monetären Reichtum und Anerkennung.
In einer Welt, in der das Streben nach materiellem Wohlstand im Vordergrund steht und als ein zentrales Merkmal von Erfolg gilt, stellt die Akkumulation von Geld ein entscheidendes Motiv für die berufliche Tätigkeit dar. Aber Geld und Wohlstand allein dürften nicht ausreichen, um hochintelligente Menschen dazu zu bringen, in das Silicon Valley zu ziehen. Diese Menschen sind kreativ und wollen die Welt verändern – und zwar auf eine positive Weise. Der Weg in die Politik scheint offenbar an Reiz verloren zu haben. Bei vielen Menschen besteht diesbezüglich der Konsens, dass das politische System in den USA bis in seine Grundfesten beschädigt ist und größtenteils durch Interessen der Großkonzerne, großzügige Wahlkampfspenden und Mechanismen des Lobbyismus regiert wird. Der politische Diskurs ist geprägt von Intrigen, Propaganda und wechselseitigen Anfeindungen der jeweiligen Parteien. Allem Anschein nach dreht man sich im Kreis und in der Bevölkerung macht sich zunehmend ein Gefühl der Ohnmacht breit. Eine wirkliche Veränderung lässt sich daher nur schleppend bewirken. Viel leichter kann ein junger Mensch versuchen, seine Zukunftsvorstellungen gemeinsam mit anderen durch die Entwicklung neuer technologischer Anwendungen, ohne Einschränkungen und ohne Rücksichtnahme auf die politische Korrektheit, zu realisieren. Es liegt daher nahe, das Wirken im Silicon Valley auch als ein politisches Statement, nämlich als eines der stillen Rebellion gegenüber dem System zu verstehen. Die ablehnende Haltung gegenüber der Politik kann folgendes Beispiel illustrieren: Als der damalige US-Präsident Barack Obama 2013 den Campus eines Hightechunternehmens besuchte, soll sich ein Mitarbeiter anlässlich des hohen Besuchs mit folgenden Worten geweigert haben, den Arbeitsplatz zu verlassen: »Ich verändere mehr, als irgendjemand in der Regierung es jemals könnte.«58
Gleichzeitig scheint dieser Technikglaube eine scheinbare Auflösung der politischen linken und rechten Lager widerzuspiegeln. Der Fortschrittsglaube transzendiert die traditionelle Vorstellung von Politik, gleichzeitig repräsentiert er eine verborgene technokratische Ideologie. Diese Überzeugung von der totalen Machbarkeit bei gleichzeitiger Ablehnung des Politischen ist zu der sogenannten »kalifornischen Ideologie« geworden. Sie setzt sich aus freisinniger Experimentierlust, unkonventionellem Lebensstil, Computerbesessenheit und Unternehmertum zusammen. Sie hat ihre Wurzeln einerseits in der Hippiekultur, andererseits in dem militärisch-industriellen Komplex, der seit den 1950er-Jahren im Silicon Valley einen wichtigen Stützpunkt hat.59
Diese Verschmelzung von Flower Power und Mikroprozessor, von Erleuchtung und Technologie wurde von Steve Jobs verkörpert, der morgens zunächst meditierte, dann Physikvorlesungen besuchte und nachts bei Atari arbeitete und davon träumte, seine eigene Firma zu gründen.60
Eine Ideologie, soll sie anziehend wirken und ihre Mitglieder langfristig binden, muss unter anderem verschiedene Formen von Ritualen bereitstellen. Neben zahlreichen konzerninternen Events und Spektakeln findet im Silicon Valley jährlich ein Event der Superlative statt: das »Burning Man-Festival«. In der Wüste Nevadas feiern Zehntausende von Menschen sieben Tage lang eine ekstatische, in jeder Hinsicht unkonventionelle Party. Das Festival steht für eine der spektakulärsten Manifestationen des Glaubens an das unerschöpfliche Befreiungspotenzial der Technik – die Feiernden zelebrieren einen Zukunftskult, in dem soziale und technische Schranken schon heute überwunden scheinen.61 Für die Teilnahme an diesem Event geben die meisten Firmen ihren Mitarbeitern frei, manche organisieren sogar Fahrten auf das Gelände. Seine Strahlkraft zieht nicht nur die Angestellten der jeweiligen Unternehmen an, sondern auch deren Bosse. So treffen sich dort die wichtigsten Persönlichkeiten von Google, Facebook, Twitter, Zynga und Uber, wenn auch in abgeschiedenen Arealen. Das Festival hinterfragt bestehende Konventionen und bricht bewusst Regeln – genau diese Mentalität wird von den Inhabern der Konzerne gutgeheißen.
Für ständigen Nachschub an Nachwuchstalenten sorgt nicht nur das lockere, offene, aber dennoch elitäre Image des Silicon Valley, sondern auch eine dort ansässige Talentschmiede: die Privatuniversität Stanford. Stanford gilt als eine der besten Universitäten der Welt – zu ihren Laureaten zählen 21 Nobelpreisträgerinnen. Je nach Fakultät rangiert sie auf Platz 1 oder 2 in den USA, verfügt über ein Jahresbudget von über fünf Milliarden Dollar, fast zehnmal so viel wie die größte Universität Deutschlands in Köln. Zusätzlich erhält sie jährlich etwa eine Milliarde Dollar an Spenden, meist von ehemaligen Abgängern, die seither Karriere machten. Die Universität prosperierte nicht zuletzt deshalb, weil sie per Verfügung an allen Erfindungen, die auf dem Campus entwickelt werden, beteiligt ist. So haben die Google-Gründer Larry Page und Sergey Brin für das Entwickeln ihrer Software Einrichtungen der Hochschule in Anspruch genommen. Da sie der Universität dafür keine Entschädigung zahlen konnten, erhielt Stanford im Gegenzug Aktien. Mitglieder des Lehrkörpers wurden Beraterinnen, einige sogar Aktionäre – und der Rektor, John Hennessy, sitzt bis heute im Verwaltungsrat.62 Stanford genießt somit nicht nur den Ruf einer exzellenten Universität. Sie wird auch mit wirtschaftlichen Interessen, ausgehend von den Professorinnen, in Verbindung gebracht, die ihren Studentinnen nicht selten den Rat geben, ihr Studium abzubrechen und gleich eine Firma zu gründen, an welcher die Professoren beteiligt werden. Angesichts der Studiengebühren, die bei durchschnittlich 40.000 Dollar pro Studienjahr liegen, ist das ein attraktiver Vorschlag, der jedoch nur noch schwer mit den konventionellen Werten einer Universität in Einklang gebracht werden kann.
Man mag zweifellos behaupten, dass das Silicon Valley eine zumindest zum Teil in sich geschlossene Einheit bildet, die sich aus einer eigenen Geschichte (der beschriebenen Synthese zwischen dem Hippiekult als Gegenbewegung und dem bereits ansässigen militärisch-industriellen Komplex), dem Glauben an die ubiquitäre Machbarkeit via Technik und der Stanford University als Kaderschmiede zusammensetzt. Aufgrund seines fast magischen Nimbus wirkt das Wüstental überaus anziehend für junge Menschen, die ihre ambitionierten Vorstellungen verwirklichen wollen. Greifen diese Elemente synergetisch ineinander, reproduziert sich diese Kultur kontinuierlich weiter. Möglicherweise sind Abkapselungstendenzen (ähnlich wie im Circle-Roman) gegenüber der »äußeren Welt« vorhanden. Scheint der kritische Gedanke so abwegig, dass sich viele der dort tätigen Personen – die hauptsächlich