Der Mensch als Rohstoff. Christian Blasge
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Ein solches Szenario würde das spontane Kommunikationsverhalten, das sich bereits durch die Nutzung des Smartphones einschneidend gewandelt hat, erneut verändern. Wir werden dem anderen mit Skepsis begegnen: Spricht sie mich an, weil sie gerade meine Bikinifotos aus dem letzten Urlaub überflogen und Gefallen daran gefunden hat? Wirft mir die Frau gegenüber der Ladentheke ihre zugeneigten Blicke nur deshalb zu, weil ich Bankmanager bin und mich auf einem Seitensprungportal befinde? Auch wenn sich manche Menschen solche Fragen nicht stellen, eines steht fest: Die Zahl der spontanen Begegnungen, der etwaigen Überraschungen und der prickelnden Momente der Unsicherheit dürften zurückgehen. Von nun an wird man im Lokal angesprochen, weil man den spionageartigen Auswahlkriterien eines anderen genügt – eine möglicherweise schmeichelhafte, jedoch befremdliche Art der Kontaktaufnahme.
Faktisch wurde der Einsatz der Google Glass in manchen Lokalen oder auf öffentlichen Plätzen verboten. Google sah sich überdies gezwungen, sogenannte »Benimm-Regeln« zu veröffentlichen: »Sei kein Glasshole!« dürfte für viele Brillennutzerinnen die eingängigste sein. Seit Anfang 2015 lag das Projekt Google Glass auf Eis. 2017 meldete sich Google unter dem Namen »Glass Enterprise Edition« damit zurück und ging diesmal gezielt auf Unternehmen zu. Mithilfe der Brille können nun Mitarbeiter ihren Kollegen per Livestream übertragen, woran sie gerade arbeiten. Auf diese Weise erhalten sie Tipps oder Anleitungen. Hilfreich könnte eine solche Brille bei Reparaturen oder chirurgischen Eingriffen, aber auch als Eins-zu-Eins-Dokumentation sein.41 Glass Enterprise Edition – ein emanzipiertes Produkt, das durch sein neues Einsatzgebiet nun größere Akzeptanz genießen könnte?
»Deep Learning« ist der Überbegriff für ein prestigeträchtiges Forschungsprojekt, das eine leistungsstarke künstliche Intelligenz entwickelt, die je nach Programmierung unterschiedliche Aufgabenfelder abdecken soll. Hier werden Computer- und Neurowissenschaften nach der Hypothese miteinander verschmolzen, dass Maschinen klüger gemacht werden können, bringt man ihnen »menschliche Verstehensweisen« bei. Neben Google investieren auch Facebook, Apple und Microsoft in diese Technologie. Wer zurzeit den Vorsprung hat, lässt sich nur vermuten, aber eines ist sicher: Dieses Projekt erfüllt alle Kriterien, um es als »Moonshot« zu bezeichnen.42 Bei dem daraus abgeleiteten Projekt »DeepMind«, das 2014 von Google übernommen wurde, handelt es sich um eine komplexe Software, welche die Strukturen des menschlichen Gehirns nachbildet. Je mehr Ebenen einander überlagern, desto effektiver arbeitet das neuronale Netz unseres Gehirns. Während der menschlichen Informationsverarbeitung natürliche Grenzen gesetzt sind, verfügt die Software über beinahe unbegrenzte Kapazitäten und eine ununterbrochene Energiezufuhr. Der Spiegel-Journalist Thomas Schulz war über einen längeren Zeitraum Gast bei Google und hat mit den kreativen Köpfen des Konzerns zahlreiche Gespräche geführt. Menschliche Intelligenz, so Schulz, wird hier lediglich als eine komplexe Software wahrgenommen, die es zu verstehen und anschließend zu simulieren gilt.
Ihr Ansatz basiert dabei auf einer radikalen Idee: dass die menschliche Intelligenz auf einige sehr wenige Algorithmen, vielleicht sogar nur auf einen einzigen Algorithmus zurückgeht.43
Ein Ableger dieser Technologie beschäftigt sich mit der Spracherkennung. Das Ziel besteht darin, eine Software zu entwickeln, welche die menschliche Stimme »versteht« und auf diese Weise eine tiefergehende, komplexe Kommunikation zwischen Mensch und Maschine ermöglicht. Das maschinelle Sehen ist ein weiterer Aspekt dieser Forschung: Danach sollen Computer so programmiert werden, dass sie Bilder ihrer Umgebung – ob Sonnenuntergänge, Katzen oder ein Fußballspiel – richtig interpretieren. In einem nächsten Schritt werden Maschinen einen Film analysieren oder ein Buch zusammenfassen lernen, doch dafür reiche die Rechenkraft noch nicht.
»Google Translate« stellt eine weitere folgenreiche Facette dieser Technologie dar. Mithilfe dieser Software lassen sich Texte aus und in nahezu 100 Sprachen übersetzen.44 Ein derartiger Universalübersetzer soll in Zukunft alle Sprachbarrieren in Luft auflösen – und einmal mehr wird von dem Entwickler des leistungsfähigen Übersetzungscomputers Franz Josef Och gepredigt: Je mehr Daten zur Verfügung stehen, desto besser funktioniert das System.
Vereinfacht gesagt, setzt der Computer existierende Übersetzungen in Beziehung zueinander und lernt eigenständig aus diesen Milliarden und Abermilliarden von Wörtern, wie er das am besten zu machen hat. […] Am Ende berechnen wir die Wahrscheinlichkeit einer Übersetzung.45
Das Verständnis und die richtige Interpretation von Humor, Sarkasmus oder Ironie liegen offenbar in greifbarer Nähe. Bei einer gelungenen Fertigstellung des Projekts soll das Sprachverständnis einer künstlichen Intelligenz – so die Entwicklerinnen – dem unseren haushoch überlegen sein. Werden möglicherweise ab diesem Zeitpunkt Maschinen unsere Bücher, Gedichte oder informativen Zeitungsberichte verfassen? In einem fortgeschrittenen Stadium soll die künstliche Intelligenz laut Geoffrey Hinton, einem führenden Forscher im Feld der künstlichen neuronalen Netze, in der Lage sein, uns je nach Suchanfrage in der Suchmaschine brauchbare wissenschaftliche Aufsätze zu liefern, die z. B. ein bestimmtes Medikament als wirksam einstufen. Zusätzlich könnte sie sämtliche Studien herausfiltern, bei denen die Verfasser offenkundig von der Pharmaindustrie bezahlt worden sind – und das in einem Bruchteil der Zeit, die ein Mensch für diese Aufgabe benötigen würde.46 Man vergegenwärtige sich die Fähigkeiten einer derartigen Maschine: Sie könnte die Bedeutung aller oben erwähnten Aspekte und den jeweiligen Kontext, in dem diese zum Einsatz kommt, verstehen und richtig interpretieren. Das gelingt nur, wenn diese Intelligenz das menschliche Denken nachahmt oder tatsächlich vollzieht. Der führende Entwickler in diesem Bereich stellt sich grundsätzlich nicht mehr die Frage, ob so etwas überhaupt möglich (oder gar sinnvoll) wäre, sondern nur noch, wann wir so weit sein werden. Googles Chefingenieur und bekanntester Vertreter wie Befürworter der »Maschinenherrschaft«, Ray Kurzweil, hat diesbezüglich bereits eine Voraussage getroffen:
Ende der 2020er werden wir das menschliche Gehirn komplett erforscht haben, was uns ermöglichen wird, nichtbiologische Systeme zu erschaffen, welche dem Menschen an Komplexität und Raffinesse in nichts nachstehen – dies schließt auch die emotionale Intelligenz ein.47
Um die dafür notwendige Rechenleistung zu erhalten, wird seit einigen Jahren an sogenannten Quantencomputern geforscht. Google hat 2013 – neben der NASA und dem Rüstungskonzern Lockheed Martin – von der kanadischen Firma D-Wave Systems Inc. einen Quantencomputer erworben. Dieser Rechner sollte in der Lage sein, einige der größten Herausforderungen der Informatik zu lösen. Google und Co. wenden dabei die Gesetze der Quantenmechanik in der Computerwissenschaft an. Das bedeutet, den Binärcode von 0 und 1, der die Grundlage der digitalen Informationsverarbeitung darstellt, zur gleichen Zeit, also in einem sich überlagernden Zustand zu berechnen. Die daraus resultierende Rechenkraft dürfte nach Aussage der Experten um ein Vielfaches schneller sein als die der klassischen Rechner und eine zweite Computerrevolution einleiten.48 Mithilfe dieser – mit einer vollständig erprobten, aber rechenintensiven Software ausgestatteten – Computer sollen nicht nur alle oben erwähnten Aufgaben gemeistert und zur Perfektion gebracht werden. Es kann überdies eine Maschine entwickelt werden, die aufgrund ihres Zugriffs auf sämtliche Daten der Welt in der Lage sein wird, stichhaltige Prognosen über künftige Ereignisse abzugeben.49 Der D-Wave Quantencomputer ist gegenwärtig nur bei bestimmten Aufgaben schneller als konventionelle Computersysteme, weswegen Google an der Entwicklung einer eigenen Version arbeitet.
Ein weiterer Teilbereich der künstlichen Intelligenz beschäftigt sich mit selbstfahrenden Autos. Dutzende fahrerlose Google-Autos sind regelmäßig auf den Straßen von San Francisco oder den kalifornischen Highways zu finden. Ein auf dem Dach angebrachtes Radarsystem schießt 64 Laserstrahlen in alle Richtungen und misst durch das reflektierte Licht des Lasers die Distanz zu einem Ziel. Der Software-Chef des Projekts, Dmitri Dolgov, reduziert die Komplexität dieser Technologie auf folgende Aussage:
Am Ende funktioniert das System ganz einfach: Der Computer wird mit einer Riesenmenge an Daten gefüttert. Heraus kommen zwei Zahlen, eine für Geschwindigkeit und die zweite für das Lenken.50
Analysiert man diesbezüglich