500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen. Группа авторов

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу 500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen - Группа авторов страница 14

500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen - Группа авторов

Скачать книгу

für die Kirche bildet – was dort nicht vorgeschrieben ist, ist implizit verboten (die Auffassung einiger englischer Calvinisten im 16. und 17. Jahrhundert) –, vertieften die meisten reformierten Denker des Mainstreams das Argument anders. Der Grundsatz, wonach alles im Leben der Kirche daran zu messen ist, ob es der Verkündigung des Evangeliums von Gottes freier Wahl und Gnade dient, ist nicht gleichbedeutend mit der Aussage, dass die Schrift ein umfassendes Rechtsbuch für die Kirche darstellt. Die Schrift kann jedoch nie als einfaches Instrument für die Zwecke der Kirche oder als Quelle von Dokumenten zur Veranschaulichung der kirchlichen Lehre gesehen werden. Sie muss als Anfrage von außerhalb des kirchlichen Lebens gehört werden, obwohl die Schrift selbst in das Leben der Kirche eingebunden ist und nicht in einem luftleeren Raum existiert. Sie bleibt ein Buch, das von der Kirche gelesen wird; doch sie wird von der Kirche gelesen, damit die Kirche hören kann, was sie sonst nicht hören würde.

      8. Im Leben der Kirche – und besonders im Gottesdienst der Kirche – werden wir in Frage gestellt. Wir werden zu aufmerksamem Schweigen geführt, zu Lob und Bestätigung; das Lesen und Hören der Schrift ist eine primäre Verkörperung dieser Dimension. Beim Zuhören vernehmen wir nicht automatisch die genaue Äußerung von Gottes Willen; wie bereits festgestellt können wir die Handlungsmacht Gottes keineswegs als automatisch vorhersehbar betrachten. Wir hören aber in der Erwartung zu, einer mehr christusgleichen Art des Seins gewandelt zu werden. Manchmal geschieht dies in einer Weise, die wir sehen und verstehen können. Meistens hingegen geschieht es in einer Weise, die nicht sofort wahrnehmbar ist. Die Disziplin des erwartungsvollen Zuhörens bedeutet aber, dass wir uns immer fragen müssen, was wir Neues über unsere Jüngerschaft lernen sollten. Dabei geht es nicht darum, sich neue Auslegungen von bekannten Texten zurechtzulegen oder radikal neue Doktrinen zu erarbeiten: Es gibt bereits einen Rahmen für die Lehre und Praxis, nämlich die gemeinsame Identität der in Christus Getauften, die allen unseren Handlungen im Gebet Bedeutung verleiht; ohne sie wäre unser Tun sinnlos. Aber innerhalb dieses Rahmens streben wir ständig nach |60| Unterweisung und Vertiefung beim Lesen, beim Dienst und beim Zeugnis. Die bezeichnende Form des Gottesdienstes kann genau die Einstellung des erwartungsvollen Zuhörens, verbunden mit unaufhörlichen Zeichen von Dankbarkeit für das, was wir gehört haben und was uns geschenkt wurde, sein.

      9. Der oft missverstandene reformatorische Grundsatz der offenen Bibel und der allen zugänglichen Schrift bildete vor dem damaligen Hintergrund einen Protest gegen die Behörden, die weder der Gesellschaft als Ganzes noch der vorausgehenden Wirklichkeit von Gottes Kommunikation in der Schrift Rechenschaft schuldeten. Dieser Grundsatz war nicht als Freibrief für unbegrenzte individuelle Auslegungen gedacht, sondern sollte das Leben der Kirche für einen gemeinsamen Prozess des Lesens und Erkennens öffnen, in dem alle Getauften mitsprechen durften. Christi Gnade wurde nicht von einer Priesterkaste an den Leib der Gläubigen weitergegeben; die Priesterweihe bildete in der Kirche ein feierliches, lebenslanges Amt und die Zusicherung ihrer Kontinuität eine ernsthafte Angelegenheit, jedoch keine Einführung in eine regierende Elite. Mit der klassischen calvinistischen Unterscheidung zwischen regierenden und lehrenden Kirchenvätern sollten diesbezügliche Bedenken aufgegriffen werden. Obwohl der lehrende Priester häufig bald genauso autoritär wurde wie das System, das er ersetzt hatte, bildete das Ideal des «dialogorientierten» Leseprozesses, bei dem alle gleich verantwortlich waren, eine zutiefst theologisch motivierte Anstrengung, um dem Grundsatz der Würde aller Getauften Ausdruck zu verleihen. Eine «offene» Bibel gibt der Gemeinde eine gemeinsame Sprache; alle haben das Recht in dieser Sprache zu sprechen und es ist nicht mehr vertretbar, den Zugang zur gemeinsamen Welt zu begrenzen, um die Macht einer regierenden Klasse zu festigen. Darin steckt ein solider Kern von klassischem Republikanismus (ironischer Weise erkennen wir hier einige politische Gedanken von Thomas von Aquin). Der Erfolg dieser Gedanken in der Geschichte verschiedener Nationen überrascht daher wenig. Dies ist aber weder als Anarchie der Liebe noch als Demokratie, wie wir sie heute deuten, zu verstehen. Es konnte das Streben nach einer realen Theokratie genauso beinhalten wie Ideale der (vielleicht gewerkschaftlichen) Mitbestimmung, Diskussion und Entscheidung. Der springende Punkt ist, dass der universale Zugang zu einer gemeinsamen, maßgebend kulturellen Ressource in Schriftform grundsätzlich der Gründung einer theologischen Konversation gleichkam, in der alle verantwortlich waren und die keine Stimmen |61| von vornherein ausschloss. Die von der Reformation nicht immer erfolgreich bewältigte Herausforderung bestand darin, einen Konsens zu finden, der maßgeblich bleiben würde.

      10. Im Sinne dieser Ausführungen ist das positive Erbe der Reformation eng mit der Idee einer (säkularen und kirchlichen) Gesellschaft verbunden, die sich selbst hinterfragt und die auf die vorausgehende Bekräftigung von Gottes Handeln vertraut, so dass Angst und Konkurrenzkampf entfallen; die geeint ist in einem gemeinsamen Gespräch zur Erzählung der Schrift; und die wachsam und aufmerksam für die Möglichkeit neuer Einsichten und Herausforderungen vor diesem Hintergrund ist. Dies ist nicht einfach identisch mit der sogenannten «modernen» Gesellschaft, geschweige denn mit der «aufgeklärten» Gesellschaft, obwohl es letztere sonst nicht geben würde. Der Hauptunterschied liegt darin, dass die Moderne die Autonomie besonders begünstigt, so dass Gottes Souveränität (trotz der wichtigen Klarstellungen der Reformation) als Gefahr für die menschliche Würde bzw. die Sprache der Rechenschaft gleichermaßen als Gefahr für die individuelle Freiheit gesehen werden. Die reformatorische Vorstellung vom menschlichen Gedeihen beinhaltet Gehorsam: Die tiefsten Freiheiten hängen also mit der Unterwerfung zusammen, sich von einer Realität, einer Wahrheit, die über unsere individuellen Pläne hinausgeht, hinterfragen zu lassen.

      11. Die Moderne erscheint in diesem Lichte als systematisches Missverständnis des Bildes der Reformation. Was oben als zwiespältige Aspekte des Erbes der Reformation bezeichnet wurde, sind im Grunde Umkehrungen der grundlegenden theologischen Prinzipien der Reformation des 16. Jahrhunderts, die vieles, was die Bewegung hinwegzufegen suchte, wieder einführten. Ein bestimmtes Rationalitätsmodell galt als allerwichtigst und normativ; darin zeigte sich ein tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber Wissensansprüchen, die sich nicht mit der Argumentation erwachsener Menschen verteidigen lassen. Die Denker der Reformation beharrten gegenüber der Mystifizierung und Manipulation darauf, dass Gott sich in einer allen zugänglichen Weise mitteilte. Sofern Symbole verwendet wurden, dienten sie hauptsächlich zur Verdeutlichung von Dingen, die in anderer Weise klarer – wenn auch vielleicht weniger anschaulich – dargestellt werden konnten. Trotz Luthers ausgeklügelter Theologie zur Dialektik zwischen dem Verborgenen und dem Offenbarten im Wirken Gottes an uns tendierte das protestantische Denken zunehmend zur Annahme, dass wahres Wissen zwangsläufig eine Frage von klarer verbaler Kommunikation sei. Dies war schwer mit |62| dem Verständnis des «unausgesprochenen» Erkennens zu vereinbaren, wie Denker jüngeren Datums es nannten, bzw. mit den materiellen Dimensionen des Erkennens (z. B. der Fähigkeit, ein Gesicht zu erkennen, ein Instrument zu spielen, auf einem Pferd zu reiten, aus Zeichen am Himmel das Wetter vorherzusehen) – ganz zu schweigen von Codes in Gesten, Zeichen und vor allem visuellen Bildern, die das übermitteln, was nicht effizient oder ausreichend in Sprache codiert werden kann. Wörter sollten für alles ausreichen; die Reformation legte deshalb – wie Torrance und andere es festhalten – einen deutlichen Akzent auf das Hören gegenüber dem Sehen als Paradigma des Erkennens.

      12. Letztlich kam es zu einer Polarisierung zwischen den verschiedenen Beschreibungen des menschlichen Erkennens. Entweder wissen wir, weil wir in der Schrift die einfachen Aussagen der göttlichen Wahrheit hören/lesen, oder wir lesen aus der Natur und Umwelt alles heraus, was wir wissen müssen, und ignorieren Wissensansprüche, die bestimmten Prozessen der Erkenntnisgewinnung widersprechen. Wir geraten in eine sinnlose und törichte Pattsituation zwischen «Wissenschaft» und «Religion», die in unserer Kultur immer noch in vielen Köpfen vorherrscht. Um zu einer gesamtheitlichen Sicht des Erkennens zurückzufinden, müssen wir wie bereits angedeutet die besten Erkenntnisse der Reformation gegen ihre eigenen Verzerrungen stellen.

      13. Luthers Revolution des theologischen Denkens implizierte, dass keine Umstände der Welt eine offensichtliche Bedeutung besaßen, die als Instrument der menschlichen Macht ergriffen und eingesetzt werden konnte. Um die Verborgenheit Gottes im gekreuzigten Christus zu verstehen, mussten wir vor dem potenziellen Abgrund der Bedeutungslosigkeit zum Schweigen gebracht und kleingemacht werden, damit wir letztlich frei

Скачать книгу