500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen. Группа авторов

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Notwendigkeit dieser Enteignung; je mehr wir uns von einer Sprache abwenden, die den Anspruch hat, die Welt umfassend abzubilden und in ein schlüssiges Erklärungssystem einzufügen, desto mehr erkennen wir, dass unser Lernen als Menschen an die Fähigkeit geknüpft ist, bewusst oder unbewusst auf Zeichen und Signale zu reagieren. Unsere Argumentation muss der für das Thema geeigneten Methode folgen; sie muss davon geprägt sein und soll etwas vom Leben dieses Themas «mitteilen.» Ohne dabei die spätmittelalterliche Besessenheit vom symbolischen Lesen von Texten und Welt wiederzuerwecken, kehren wir zu einer Sensibilität für die Kommunikation |63| zurück, die nicht einfach verbal ist, bzw. wenn sie verbal ist, mit Ironie und Umwegen arbeitet (sehr klar in der protestantischen Poetik von Fulke Greville oder George Herbert im 16. und 17. Jahrhundert).

      14. Die Schwäche des Nachdenkens über die Kirche, die ich als weiteres zwiespältiges Erbe der Reformation beschrieben habe, geht auf die komplexe Verzerrung des Begriffs der «unsichtbaren» Kirche zurück. Einmal mehr: Was ursprünglich als Argument zur Betonung der Verborgenheit von Gottes Handeln und damit dessen uneingeschränkter Freiheit und Transzendenz erarbeitet wurde, entwickelte sich im populären Protestantismus zu einer starren Skepsis gegenüber Doktrinen, wonach die christliche Gemeinde für die Formung der christlichen Identität notwendig ist. Die Unklarheit der Grenzen der Kirche, die Wahrheit, die der junge Calvin äußerte, als er «halb begrabene Kirchen» wahrnahm, der Widerstand dagegen, die institutionelle Zugehörigkeit zum Träger einer beinahe automatischen Gnade zu machen: All dies weckte bei vielen das unbestimmte Gefühl, dass das christliche Selbstverständnis nichts sichtbar Gemeinschaftliches aufweisen müsse. Auch hier helfen uns die Grundsätze der Reformation selbst, der Verzerrung zu entgehen – vor allem die offene Bibel als Bereich der gemeinsamen Sprache. Der Einzelne, der sich in die private Frömmigkeit flüchtet (in einer Weise, die Calvin und Luther schockiert hätte), hat noch nicht begriffen, dass eine innere Lebenswelt abseits des geteilten Erkennens und Prüfens von Gottes Willen genau jenen Rückzug des menschlichen Geistes auf sich selbst darstellt, der die Sündenherrschaft festigt. Zu betonen, dass die Fülle der Gnade beim Abendmahlsteilnehmer vom Glauben des Kommunikanten abhängt, ist eine verständliche Reaktion auf den mechanischen Ansatz ohne die Gnade, womit Gottes Gegenwart automatisch gewährleistet wurde; doch die populäre Frömmigkeit deutete dies rasch so, dass die äußere Form einen rein praktischen Weg zur Verstärkung der geistigen Lektion bildet und keinen gemeinschaftlichen objektiven Akt, Gott eindringlich zu bitten, durch das tatsächliche Wirken des Geistes von sich selbst und von seinem Werk in Christus Zeugnis abzulegen. Der Glaube an die bedingungslose Hoheit der Gnade bedeutet nicht, dass wir die Gnade eher in unseren privaten Erfahrungen als Einzelne am Werk sehen müssen als anderswo, ganz im Gegenteil. Der Glaube relativiert private Erfahrungen genauso maßgeblich, wie er gemeinsame Erfahrungen relativiert. Unser gemeinsames Gebet führt uns hin zur bleibenden Wirklichkeit der Schrift und des Sakraments als objektive Zeugen von Gottes |64| Handeln, unabhängig von unserer subjektiven Befindlichkeit oder unseren Bestrebungen.

      15. Wie die richtig verstandene reformatorische Theologie die Polarität zwischen Gemeinde und Einzelnen mit dem Hinweis auflöst, dass Gott beiden gegenüber frei handelt, so löst sie auch das quälende und hartnäckige Gefühl von Rivalität zwischen Gott und der Schöpfung auf – eine Rivalität, die wie oben festgestellt viele zur Annahme führt, dass Gott zu entthronen sei, damit die Menschheit frei werde. Gottes Souveränität ist nicht nur eine überhöhte Art der menschlichen Macht. Wenn wir dies begreifen, erkennen wir allmählich die radikalen Implikationen der Erschaffung des Menschen nach dem Bilde Gottes und der Absicht Gottes, dem Menschen über Jesus Anteil am göttlichen Leben zu verleihen. Wie Calvin richtig erkannte, ist diese Einsicht für reformatorischeTheologie nur dann störend, wenn die Würde oder das Gedeihen der Menschen für Gott bedrohlich sein kann, was ex hypothesi undenkbar ist. Die kompromisslose Betonung der absoluten Differenz von Gottes Macht sollte zu einer verstärkten theologischen Bekräftigung der menschlichen Würde führen: Kein Tribut, der der endlichen Menschheit gezollt wird, tut dem, was Gott geschuldet wird, in irgendeiner Weise Abbruch. Götzendienst bedeutet, der Schöpfung das zuzuschreiben, was allein Gott gehört, d. h. Geschöpfe mehr denn nur als Geschöpfe zu behandeln. Die wahre christliche Herausforderung besteht darin, die Menschheit für das zu lieben und zu verehren, was sie ist – sterblich und verletzlich und doch unermesslich glorreich, weil Gott sie als Ort der göttlichen Offenbarung und Wirkung geschaffen hat. Um die Brücke zu den oben behandelten Themen zu schlagen: Unsere Fähigkeit zu radikaler Selbstbefragung als Individuen und als Gesellschaft wird durch diese grundlegende Überzeugung möglich, dass unsere sterbliche und fehlbare conditio humana in ihrer Zerbrechlichkeit von Gott, der das Menschsein erlöst und umwandelt, aber nie aufhebt, bestätigt wird. Mit andern Worten: Wir können alles an unserem Menschsein in Frage stellen – seine genauen Fähigkeiten, Gewohnheiten und Verhaltensweisen – und wir können die gefallene Natur mit fast schon ätzendem Pessimismus betrachten, aber wir können nicht an der Würde zweifeln, die Gott uns ohne Bedingungen verliehen hat – ein Gott, der nicht eifersüchtig ist auf unser Menschsein, weil das göttliche Leben nicht denselben Raum bewohnt wie wir.

      16. Dass die reformatorische Theologie es vermochte, diese Aussage zu formulieren, verleiht ihr in den heutigen kulturellen Kämpfen Bedeutung. Christliche Hoffnung zu verkünden bedeutet keineswegs, die |65| Fähigkeiten oder den Charakter des Menschen optimistisch zu schildern; die theologische Perspektive erlaubt uns, das Schlimmste zu befürchten (genauso wie in der populären Assoziation der Denkweise von Augustinus und von Calvin), aber sie erlaubt uns nicht, geringer von unserem Menschsein zu denken, als der Schöpfer es tut. Indem sie uns die Sprache und die Welt der Schrift als das Haus vorschlägt, das wir gemeinsam bewohnen, und als den Dialekt, den wir sprechen, vermittelt sie uns, dass wir eine Richtung und sogar eine Transformation finden könnten, wenn wir die Geschichte von Gottes Umgang mit einem Volk, mit dem er einen Bund abschließt, zu unser eigenen machen. Wer von christlicher Hoffnung spricht, spricht von der Treue Gottes; unsere gesellschaftliche Vision beruht auf dem Glauben an einen Gott, der aus freien Stücken verspricht, der Gott jener zu sein, die seine Liebe weder verdient noch erzwungen haben. Die radikale Andersheit der göttlichen Liebe und Hingabe und demzufolge die nicht reduzierbare, geheimnisvolle Tragweite von Gottes Wahl beinhalten eine systematische Verehrung der Menschen, unabhängig von ihrem Status, von Leistung oder ethischem Verhalten. Alle gehören potenziell zur Geschichte der unvorhersehbaren göttlichen Treue und zur Geschichte der Schrift, in der wir gemeinsamen Boden finden.

      17. Dieses Erbe fordert verschiedene negative Kräfte heraus. Es legt Gewicht auf ein Reifwerden, das mit dem Sich-selbst-Infragestellen umgehen kann, und stellt so die Publikums- und Medienkultur infrage, bei der die Verwaltung der persönlichen Bilder im Vordergrund steht. Ein offener, ehrlicher Austausch in der persönlichen und öffentlichen Auseinandersetzung ist dafür wesentlich. Dazu muss grundsätzlich die Bereitschaft bestehen, die eigenen Träume, unangreifbar im Recht zu sein, zum Schweigen zu bringen. Angesichts der vagen Spiritualität, die leicht in tröstliche und sentimentale «Innerlichkeit» umschlägt, ist die öffentliche und persönliche spirituelle Praxis notwendig, um aufmerksam und genau zuzuhören und für das bereit zu sein, was dem faulen Ich nicht angenehm ist – altmodisch gesagt, um auf die «Stimme Gottes» zu hören. Im Unterschied zum allgemeinen Widerwillen, in mehr als lokalen oder kommunalen Erzählungen zu denken, bietet dieser Ansatz eine universale Erzählung der göttlichen Gnade und Wahl, die sich auf einzigartige Weise in der Schrift niederschlägt und sich auf Ereignisse konzentriert, in denen das echte Bild des Menschseins im gekreuzigten und auferstandenen Christus wiederhergestellt wird. Calvin selbst weist den Gedanken von sich, dass unsere Rettung nur in einer formalen, äußerlichen und mechanischen Beziehung zu einem Christus steht, der uns für |66| gerecht erklärt hat, aber keinen echten Wandel in uns bewirkt: «Er teilt mit uns sein Leben und alle Segen, die er vom Vater erhalten hat.» (Bibelkommentar zu Joh 17, 21).

      18. Entgegen der angstvollen fundamentalistischen Religion bekräftigt die reformatorische Tradition einen Gott, der von unseren Bemühungen und Erfolgen weder überzeugt werden kann noch muss: Die Sprache unseres Glaubens und besonders unseres Gebets wird bestimmt von der Dankbarkeit für die unverdiente, grundlose Liebe und Vergebung und von der Dankbarkeit gegenüber Gott, dass er Gott ist. Entgegen auch einem rebellischen oder missgünstigen Atheismus, der fremder

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