Möglichkeiten. Lisa Dickey
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„Hör mal, Jackie“, begann ich. „Kann Tony denn wirklich trommeln? Oder klingt er für einen Siebzehnjährigen einfach nur gut?“
„Ich erzähl dir mal was, Herbie“, antwortete er. „Spiel den Gig, und du wirst es herausfinden.“
Das machte ich. Wir hatte keine Probe, da wir Standards aufführten, Stoff, den alle kannten. Als Jackie die erste Nummer einzählte, begann ich mit einem Akkord – wonach Tony den beeindruckendsten Rhythmus hinlegte, den ich jemals gehört hatte. Ich hob die Hände von den Tasten und drehte mich mit weit offenem Mund zu ihm zurück. Es war unglaublich, was ich von dem kleinen, mageren Bürschchen hörte. Ich hatte keine Vorstellung, wie er auf diese Rhythmen kam, und ich brauchte mehr als einen Chorus, bis ich mich gesammelt hatte und weiterspielte.
Tony verfügte über ein irres Talent. Er konnte wie kein anderer trommeln und hatte sogar schon in seinem jugendlichen Alter ein absolutes Vertrauen in seine Fähigkeiten. Bei einigen Musikern scheint es so, als hätten sie schon bei der Geburt ihr Instrument gespielt, und Tony gehörte zu ihnen. Ihn zu beobachten und zu hören war pure Magie, da pure Energie und Kreativität von ihm ausgingen. Noch eine Woche zuvor hatte ich Tony abgewimmelt, doch nach dem Gig rief ich ihn an und fragte: „Hey, Mann, was geht ab? Hast du was vor? Kann ich mal rüberkommen?“ Und so begann meine Freundschaft mit Tony Williams.
Als Tony mich an besagtem Tag anrief – nachdem Miles mich kontaktiert hatte –, berichtete er, ebenfalls eingeladen worden zu sein. Ich spürte eine Aufregung in mir hochkochen und fühlte mich zudem erleichtert, weil er die Adresse von Miles kannte und ich damit einen konkreten Anhaltspunkt hatte.
Am nächsten Nachmittag stand ich vor Miles’ Haus an der West 77th Street. Er öffnete die Tür und führte mich die Stufen einer Treppe hinunter, an deren Ende sich sein Proberaum befand. Dort sah ich Tony, den Bassmann Ron Carter und den Saxer George Coleman. Wir quatschten ein wenig, dann nannte Miles ein Stück, zählte es ein, und wir begannen zu spielen, um uns aufeinander einzuschwingen. Miles begleitete uns einige Takte, warf danach das Flügelhorn auf die Couch und verschwand die Treppe hoch. Von da an wählte Ron die Nummern aus.
Der einige Jahre ältere Ron war schon eine Weile in der Szene und hatte auch bereits mit Eric Dolphy gespielt. Er hatte mit klassischer Musik begonnen, setzte sich als Junge in Michigan mit dem Cello auseinander, wonach er sich dem Jazz und dem Kontrabass widmete. Wie waren uns schon begegnet, kannten uns aber nicht gut, was auch auf George Coleman zutraf. Doch an dem Nachmittag lernten wir uns auf die Art kennen, wie Jazz-Musiker Bekanntschaft schließen – indem sie zusammensitzen und einige Nummern jammen.
Wir spielten den ganzen Nachmittag, der sich dann bis in den Abend erstreckte, und manchmal kam Miles runter, nahm sein Flügelhorn und spielte einige Töne, warf es wieder auf die Couch und rannte nach oben. Was ich damals noch nicht wusste, aber Jahre später erfuhr – in Miles’ Haus war tatsächlich eine Sprechanlage installiert. Saß er nun im dritten Stock, konnte er genau hören, was wir gerade spielten. Er wusste, dass ein Haufen junger Musiker wie wir möglicherweise durch seine Anwesenheit eingeschüchtert war. Aber er wollte unsere Fähigkeiten genau kennenlernen, weshalb er Ron die Führung überließ und einige Noten-Sheets auf das Piano legte. Ron spielte Bass mit einem wunderschönen Ton und makellosem Timing, war zudem noch sehr gut organisiert und nahm die ihm übertragene Verantwortung ernst. Er achtete auf den Fokus der Musiker.
Das Vorspielen erstreckte sich schließlich über drei Tage. Wir jammten, analysierten Akkord-Progressionen und lernten die gegenseitigen Stile kennen, während Miles rauf und runter ging und seinem Geist freien Lauf ließ. Am dritten Tag – endlich – gesellte er sich zu uns und spielte einige Nummer komplett mit. Dann sagte er: „Okay, das war’s. Kommt am Dienstag ins 30th Street Studio.“ Und dann wollte er schon wieder die Treppe hochgehen.
„Miles“, sprach ich ihn verwirrt an, „bin ich jetzt in der Band?“
Miles drehte sich um, den Hauch eines Lächelns auf dem Gesicht: „Du machst ’ne Platte, Muthafucka!“
Am Dienstag, dem 14. Mai, machte ich mich also mit den anderen auf den Weg ins 30th Street Studio der CBS. Wir hatten die Songs für das Album noch niemals richtig ausgespielt, doch Miles interessierten Proben nicht.
Er wollte, dass wir mit laufender Bandmaschine einfach drauflosspielten und das einfingen, was gerade passierte. Später fand ich heraus, dass Miles immer so produzierte. Er beabsichtigte die erste, ehrlichste und unverfälschteste Version eines Songs einzufangen, auch wenn sie fehlerhaft war. Miles glaubte, dass man die Kreativität durch zu häufiges Proben erstickte. Für ihn drückte Musik Spontaneität aus, den Versuch, etwas zu entdecken, und exakt das wollte er auf seinen Alben einfangen. Wenn die Bläser die komplette Melodie erstmalig durchspielten, war es für ihn der Take, den man für die Platte nutzte.
Miles verschwendete weder Worte noch Zeit. 1956 nahm er mit seinem ersten Quintett vier Alben an einem einzigen Tag auf – Cookin’, Relaxin’, Workin’ und Steamin’ –, zu denen er nur noch wenige Tracks einer früheren Session beisteuerte. Er ging einfach ins Studio und spielte. Nimmt man mit so einer Methode auf, ist es zuerst beängstigend, doch danach schärft es die Sinne. Ein Musiker wird zu Selbstvertrauen gezwungen, da er weiß, dass sich ihm kein anderer Weg bietet.
Und genau so arbeiteten wir auch an dem Tag. Die Band spielte alle Tracks für Seven Steps To Heaven ein. Es wurde eine phänomenale Session. Jeder brachte es, besonders der siebzehnjährige Tony Williams, ein richtiger Killer. Ich hatte so viel Spaß mit diesen großartigen Musikern, wollte, dass es ewig so weiterginge. Am Ende der Session fragte ich Miles erneut: „Also bin ich jetzt in der Band?“
„Du hast doch die Platte gemacht, oder?“ So lautete also die Antwort auf meine Frage.
Ich spielte das letzte Konzert vor meiner Zeit als Full-Time-Pianist für Miles als Begleitmusiker für Judy Henske in Greenwich Village. Judy war eine große Brünette mit einer rauen Stimme, die obszönen Blues sang und noch obszönere „Backroom-Balladen“. An dem Abend spielte sie vor Woody Allen, der eine Reihe von Auftritten im Village Gate absolvierte. Geplant waren einige Gigs, und nach einer Show tauchte Miles im Club auf.
„Brauchst du ’ne Mitfahrgelegenheit?“
„Nein, danke. Ich habe mir gerade ein Auto gekauft und bin heute damit gekommen.“
Miles betrachtete mich einen kurzen Augenblick. „Es ist aber kein Maserati“, meinte er.
Miles war natürlich für wunderschöne Autos, Kleidung und Frauen bekannt.
„Nein, ist es nicht. Aber er ist irgendwie ganz niedlich.“
Wir gingen die Treppe hoch und auf die Bleecker Street, wo mein Cobra direkt vor dem Club parkte. Ich zeigte mit dem Finger darauf, und Miles sagte nachsichtig: „Ah, der ist ja wirklich niedlich.“ Dann ging er die Straße hoch und verschwand. Ich setzte mich in den Wagen, fuhr aus der Parklücke, bog rechts in die Sixth Avenue ab und nahm die 93rd Street für den direkten Weg in den Norden, wo ich erst kürzlich ein eigenes Apartment bezogen hatte. An einer Ampel fuhr Miles plötzlich gemächlich neben meine