Unbestreitbare Wahrheit. Mike Tyson
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„Lassen Sie sie in Ruhe“, warnte sie ihn.
Er fasste es als Scherz auf, doch sie versetzte ihm einen Kinnhaken und beförderte ihn zu Boden. Als er Bertha am nächsten Tag sah, fragte er: „Wie geht es Ihnen, Miss Price?“ Und ab da vergriff er sich nie wieder an seiner Frau und wurde ein anderer Mensch.
Meine Mom war allgemein beliebt. Als ich geboren wurde, arbeitete sie als Gefängnisaufseherin im Women’s House of Detention in Manhattan, bereitete sich aber nebenher auf den Lehrerberuf vor. Sie war drei Jahre lang aufs College gegangen, bevor sie meinen Vater kennenlernte. Als er krank wurde, musste sie aber abgehen, um ihn pflegen zu können. Trotz ihrer guten Ausbildung besaß sie jedoch keinen guten Geschmack, was Männer betraf.
Über die Familie meines Vaters weiß ich sehr wenig. Im Grunde kannte ich ihn eigentlich gar nicht, das heißt den Mann, den man als meinen Vater ausgab. Auf meiner Geburtsurkunde stand, mein Vater sei Percel Tyson. Nur haben mein Bruder, meine Schwester und ich diesen Kerl nie gesehen. Uns allen wurde erklärt, unser biologischer Vater sei Jimmy „Curlee“ Kirkpatrick Jr. Doch er trat kaum in Erscheinung. Später hörte ich Gerüchte, Curlee sei ein Zuhälter und erpresse Frauen. Doch dann bezeichnete er sich plötzlich als Diakon der Kirche. Deswegen sage ich jedes Mal, wenn ich höre, dass sich jemand als Reverend bezeichnet, „Reverend Zuhälter“. Wenn man genau darüber nachdenkt, stellt man fest, dass diese religiösen Typen das Charisma eines Zuhälters haben. Sie könnten jeden in die Kirche locken und dazu bringen zu tun, was immer sie von ihm verlangen. Für mich sind sie also immer „Bischof Zuhälter“ oder „Reverend Ike, Zuhälter“.
Curlee besuchte uns immer dort, wo wir gerade wohnten. Er und meine Mutter sprachen nie miteinander, er drückte lediglich auf die Hupe, und wir gingen hinunter zu seinem Auto, stiegen in seinen Cadillac und dachten, wir machen einen Ausflug nach Coney Island oder zum Brighton Beach, doch er fuhr einfach ein paar Minuten mit uns durch die Gegend und brachte uns dann nach Hause zurück, steckte uns etwas Geld zu, verpasste meiner Schwester einen Kuss und schüttelte meinem Bruder und mir die Hand – und das war’s. Vielleicht würde ich ihn ein anderes Mal wiedersehen.
Meine erste Wohngegend war Bedford-Stuyvesant in Brooklyn, damals ein anständiges Wohnviertel der Arbeiterklasse. Jeder kannte jeden. Es lief alles recht normal. Aber Ruhe gab es keine. Jeden Freitag und Samstag herrschte im Haus ein Tumult wie in Las Vegas. Meine Mom lud all ihre Freundinnen, von denen viele im horizontalen Gewerbe arbeiteten, zum Kartenspielen ein. Sie schickte dann ihren Freund Eddie los, Schnaps zu besorgen, und sie kippten den Alkohol nur so hinunter. Den Gewinn jedes vierten Spiels musste die Gewinnerin in den Topf werfen, und der gehörte Mom. Dann bereitete meine Mutter Hähnchenflügel zu. Mein Bruder erinnert sich, dass in unserem Haus außer den Nutten auch Gangster, Detektive, ja, die unterschiedlichsten Menschen verkehrten.
Wenn meine Mutter Geld hatte, verprasste sie es. Sie liebte Gesellschaft und lud immer ein paar Freundinnen und auch diverse Männer zu sich ein. Und alle ließen sich volllaufen bis zum Abwinken. Sie selbst rauchte kein Marihuana, aber alle ihre Freunde, die sie mit dem Stoff versorgte, taten es. Sie selbst rauchte lediglich Zigaretten. Die Freundinnen meiner Mutter waren Prostituierte oder zumindest Frauen, die für Geld mit Männern schliefen. Sie lieferten ihre Kids bei uns ab, wenn sie sich mit Männern trafen. Wenn sie ihre Kinder dann bei uns abholten, kam es vor, dass sie Blut auf der Kleidung hatten. Meine Mom half ihnen, sich zu säubern. Als ich eines Tages nach Hause kam, fand ich ein weißes Baby vor. „Was soll denn dieser Scheiß?“, dachte ich. Aber so war mein Leben.
Mein Bruder Rodney war fünf Jahre älter als ich, sodass wir wenig gemeinsam hatten. Er ist ein seltsamer Kerl! Wir sind Schwarze aus dem Ghetto, und er war wie ein Wissenschaftler, hatte jede Menge Teströhrchen und experimentierte ständig herum. Er besaß sogar eine Münzsammlung, nach dem Motto: „Wenn es die Weißen haben, steht es mir auch zu.“
Einmal ging er ins Chemielabor im Pratt Institute, einem College der Umgebung, und holte sich ein paar Chemikalien zum Experimentieren. Als er ein paar Tage später außer Haus war, schlich ich in sein Zimmer und füllte seine Teströhrchen mit Wasser. Das gesamte Fenster zum Hinterhof flog in die Luft. Daraufhin musste er ein Schloss an seiner Tür anbringen lassen.
Ich hatte viel Streit mit ihm, aber es war die typische Geschichte zwischen einem älteren und einem jüngeren Bruder. Doch eines Tages verwundete ich ihn mit einem Rasiermesser. Er hatte mich wegen irgendwas verprügelt und war dann schlafen gegangen. Zusammen mit meiner Schwester Denise sah ich mir im Fernsehen immer eine dieser Arztserien an. Gerade wurde eine Operation gezeigt. „Das könnten wir nachmachen, und Rodney könnte der Patient sein. Ich bin der Arzt und du die Krankenschwester“, erklärte ich meiner Schwester. Also rollten wir seinen linken Ärmel hoch und los ging’s. „Skalpell“, befahl ich, und meine Schwester reichte mir ein Rasiermesser. Ich machte einen kleinen Schnitt, und er fing an zu bluten. „Schwester, wir brauchen Alkohol“, sagte ich. Sie reichte ihn mir, und ich träufelte ihn auf seine Wunde. Er wachte brüllend auf und jagte uns durchs Haus. Ich versteckte mich hinter meiner Mutter. Noch heute hat er Narben von meinen Schnitten.
Aber wir verlebten auch gute Zeiten miteinander. Einmal ging ich mit meinem Bruder die Atlantic Avenue hinunter, und er sagte: „Komm, lass uns zur Donuts-Fabrik gehen.“ Ein paar Tage zuvor hatte er dort ein paar Donuts gestohlen, und ich glaube, er wollte mir zeigen, dass er es erneut tun konnte. Also schlenderten wir dorthin; das Tor stand offen. Er ging hinein und schnappte sich ein paar Donuts-Schachteln, aber plötzlich schloss sich das Tor. Er konnte nicht mehr raus, und die Wachmänner setzten sich in Bewegung. Also gab er mir die Donuts, und ich rannte damit heim. Meine Schwester und ich setzten uns auf die Veranda und stopften die Donuts in uns hinein; unsere Gesichter waren weiß vom Puderzucker. Unsere Mom stand daneben und unterhielt sich mit der Nachbarin.
„Mein Sohn Rodney hat den Test für die Brooklyn Tech mit Bravour bestanden“, prahlte sie. „Er ist der beste Schüler seiner Klasse, wirklich ein Überflieger.“
Just in diesem Moment fuhr ein Polizeiauto vor, mit Rodney auf dem Rücksitz. Die Polizei wollte ihn rauslassen, aber er hörte, wie unsere Mutter von ihrem guten Sohn schwärmte und bat die Polizisten, weiterzufahren. Man brachte ihn direkt nach Spofford, in ein Jugendgefängnis. Meine Schwester und ich verputzten fröhlich sämtliche Donuts.
Den Großteil meiner Zeit verbrachte ich mit meiner Schwester Denise. Sie war zwei Jahre älter als ich und in der Nachbarschaft sehr beliebt. War sie dein Freund, dann war sie dein bester Freund. Aber war sie dein Feind, dann war es besser, sich aus dem Staub zu machen. Wir machten Lehmkuchen, schauten uns im Fernsehen Wrestling und Karatefilme an und begleiteten unsere Mutter zum Einkaufen. Es war ein behagliches Leben, aber dann wurde plötzlich von heute auf morgen alles anders. Ich war gerade sieben Jahre alt.
Die Wirtschaft brach ein, meine Mom verlor ihren Job, und wir wurden aus unserer hübschen Wohnung in Bed-Stuy geworfen. Ein paar Männer kreuzten auf und stellten einfach unsere Möbel und den sonstigen Kram auf den Gehsteig. Wir drei Kinder mussten uns auf die Möbel setzen und darauf achten, dass niemand sie wegnahm, während meine Mutter sich auf die Suche nach einer Bleibe für uns begab. Als ich so dasaß, kamen ein paar Nachbarkinder und fragten: „Mike, weshalb stehen eure Möbel hier draußen?“ Wir erklärten ihnen einfach, dass wir umzögen. Daraufhin brachten uns ein paar freundliche Nachbarn etwas zu essen.
Schließlich landeten wir in Brownsville. Was für ein Unterschied zu unserer vorherigen Wohngegend! Hier waren die Menschen viel lauter, viel aggressiver. Es war eine grauenhafte, brutale Umgebung. Meine Mutter war diese Art von aggressiven Schwarzen nicht gewohnt und daher eingeschüchtert, ebenso mein Bruder und meine Schwester. Hier war alles feindselig, es gab überhaupt keine ruhigen Momente. Ständig fuhren Polizeiautos mit ihren Sirenen vorbei, pausenlos waren Krankenwagen unterwegs,